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Thomas Piketty und Michael Sandel: „Die Kämpfe der Zukunft“: 80 Prozent Spitzensteuersatz. Empfohlen von Jens-Christian Rabe.
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Ungleichheit, sagen der amerikanische Moralphilosoph Michael Sandel und der französische Ökonom Thomas Piketty, ist das Problem, das alle unsere Krisen verursacht. Und sie wissen sogar, wie man es löst.
Vollständige Rezension anzeigen Thomas Piketty und Michael Sandel: „Die Kämpfe der Zukunft“: 80 Prozent Spitzensteuersatz. Empfohlen von Jens-Christian Rabe. An Büchern, die versuchen, die lausige Lage des Westens aufzudröseln, herrscht derzeit kein Mangel. Demokratiekrise, Wirtschaftskrise, Finanzkrise, Klimakrise, Identitätskrise, Migrationskrise, Liberalismuskrise, Konservativismuskrise – die viel beschworene Polykrise kommt einem längst wie eine Art unentrinnbarer Nebel vor. Und gepaart mit den jeden Tag immer nur noch haarsträubenderen Berichten aus Washington stellt sich langsam auch bei den abgeklärtesten Beobachtern so etwas wie panische Ohnmacht ein. Oder ohnmächtige Panik? Wo bitte sind wir denn da hineingeraten, und wie bitte sollen wir da wieder herausfinden? Ein großes kleines Büchlein immerhin kommt in diesem Moment genau richtig. Streng genommen ist es sogar bloß die Mitschrift eines Gesprächs. Geführt haben es allerdings zwei weltbekannte Köpfe: der 53-jährige französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty und der 72-jährige amerikanische Moralphilosoph Michael Sandel. Die beiden haben sich an der Paris School of Economics unterhalten, einer Graduierten-Hochschule, irgendwann im vergangenen Jahr, vor der amerikanischen Wahl. Zwischen den echten Problemen und der Öffentlichkeit liegen hier noch keine Bullshit-Dekrete Genaueres erfährt man über die Geschichte des Buches nicht, aber sehr schnell erscheint einem die Tatsache, dass es vom neuesten Trump-Wahnsinn nichts weiß, wie ein Glücksfall. Die Lektüre ist das perfekte Gegengift zum „Flood the zone with shit“-Plan des Trump-Strategen Steve Bannon. Zwischen den echten Problemen und der Öffentlichkeit liegen hier noch nicht stapelweise Bullshit-Dekrete in der Gegend herum. Stattdessen geht es einfach mal wieder um, genau, Gleichheit und Gerechtigkeit. Oder vielmehr darum, dass im Mittelpunkt fast aller Krisen die Tatsache steht, dass es um die Gerechtigkeit unter den Menschen, auch und gerade im Westen, schlimm bestellt ist. Die reichsten zehn Prozent, so die noch konservative Berechnung Pikettys, vereinen in Europa mehr als ein Drittel allen Einkommens auf sich und mehr als die Hälfte allen Vermögens. Und in den USA ist die Situation noch krasser. Ein echtes Problem ist das, weil unter der Bedingung, dass in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem letztlich alles eine Ware mit einem Preis ist, der Zugang zu existenziellen Gütern wie Bildung, Gesundheit, Unterkunft, Verkehr oder Ernährung so unterschiedlich verteilt wird. Ganz zu schweigen davon, dass darunter auch die politische Gleichheit leidet, was also der Würde jedes einzelnen Bürgers und jeder einzelnen Bürgerin schadet – und damit dem Gefühl von Verbundenheit und Zugehörigkeit, dessen Bedeutung oft unterschätzt wird. Denn daraus entsteht erst das Verantwortungsgefühl jedes Einzelnen für das Allgemeine, das die Demokratie so dringend braucht. Ungleichheit ist viel mehr als ein wirtschaftliches Problem. Sie unterminiert letztlich die gesamte Ordnung. So weit, so bedauerlich, aber auch so klar (wenn auch leider alles andere als trivial, was gerne verwechselt wird). Fahrt nimmt das Gespräch dort auf, wo es darum geht, was gegen diesen Missstand zu tun wäre. Sowohl Piketty als auch Sandel sind im weitesten Sinne Sozialdemokraten, insofern ist es keine Überraschung, dass sie klassische linke Lösungsideen umtreiben. Dabei wagen sie sich allerdings viel weiter aus der Deckung, als es sozialdemokratische Politiker in der Regel in den vergangenen Jahrzehnten getan haben und tun: Das Ziel einer größeren Umverteilung von Reichtum etwa diskutieren sie sehr konkret am Beispiel stark progressiver Steuern, mit Spitzensteuersätzen bis zu 80 oder sogar 90 Prozent. Was schlagartig deutlich weniger verrückt klingt, wenn man von Piketty erfährt, dass der Spitzensteuersatz in den USA von 1930 bis 1980 tatsächlich bei 82 Prozent lag. Abgesehen davon, dass eine solche Steuer auch dabei helfen würde, die längst eklatante Lücke zu verkleinern, die zwischen den höchsten Gehältern in der Wirtschaft und denen in der Regierung klafft: „Wenn man staatliche Regulierungsbehörden mit den richtigen Leuten besetzen will und ihnen zwanzigmal weniger bezahlt als Google oder sonst wer, dann hat man ein Problem.“ Und die Lösung liege offensichtlich nicht darin, ihnen zwanzigmal mehr zu bezahlen, sondern in der Verringerung der Einkommensunterschiede. Das jedenfalls, so Piketty, sei, was sich historisch bewährt habe. Auch die Mängel des Bildungssystems, die keine Naturkatastrophen sind, sondern nicht zuletzt durch die Politik linker Regierungen herbeigeführt wurden, werden ungewöhnlich konstruktiv diskutiert, etwa wenn es um den Mythos von der Meritokratie geht, die beschämend geringen Ausgaben für Berufsausbildungen oder wirklich effektive neue Wege, auch Kindern von armen Eltern einen Zugang zu höherer Bildung zu verschaffen. Das Format „unmoderiertes Gespräch zwischen zwei Gelehrten, die sich nicht wirklich uneinig sind“ ist dabei Schwäche und Stärke zugleich. Beherzt kontrovers ist diese Unterhaltung natürlich selten und auch immer wieder kein Gespräch im engeren Sinne (und entgegen anderslautender Berichte auch alles andere als ein „Schlagabtausch“), dafür sind die oft mehrseitigen einzelnen Einlassungen der beiden schlicht zu lang, eher Ko-Referate als Beiträge einer echten Konversation. Hier und da ertappt man sich beim Zurückblättern, weil man nicht mehr sicher ist, wer eigentlich gerade spricht. Zudem erlauben sich leider beide, auf konkrete und interessante Fragen des jeweils anderen explizit nicht sofort zu antworten, sondern weitschweifige Exkurse voranzustellen – und erst zu antworten, wenn man die Frage schon fast wieder vergessen hat. Ein etwas strengeres Lektorat wäre hier sicher nicht falsch gewesen. Einerseits. Mit anderen Worten: Dieses Buch kommt unscheinbar daher, ist aber das Buch für den Moment, in dem wir uns befinden. Man sollte es nicht nur lesen, wenn man eine etwas genauere Ahnung davon bekommen möchte, warum die Welt (oder immerhin der sogenannte „westliche“ Teil davon) gerade ist, wie sie ist. Man sollte es lesen, damit man nicht vergisst, dass gar nicht so unklar ist, was zu tun wäre. Und wie nötig es ist, noch einmal ziemlich neu darüber nachzudenken, was es heißen sollte, eine demokratische Gesellschaft zu sein.
An Büchern, die versuchen, die lausige Lage des Westens aufzudröseln, herrscht derzeit kein Mangel. Demokratiekrise, Wirtschaftskrise, Finanzkrise, Klimakrise, Identitätskrise, Migrationskrise, Liberalismuskrise, Konservativismuskrise – die viel beschworene Polykrise kommt einem längst wie eine Art unentrinnbarer Nebel vor. Und gepaart mit den jeden Tag immer nur noch haarsträubenderen Berichten aus Washington stellt sich langsam auch bei den abgeklärtesten Beobachtern so etwas wie panische Ohnmacht ein. Oder ohnmächtige Panik? Wo bitte sind wir denn da hineingeraten, und wie bitte sollen wir da wieder herausfinden?
Ein großes kleines Büchlein immerhin kommt in diesem Moment genau richtig. Streng genommen ist es sogar bloß die Mitschrift eines Gesprächs. Geführt haben es allerdings zwei weltbekannte Köpfe: der 53-jährige französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty und der 72-jährige amerikanische Moralphilosoph Michael Sandel. Die beiden haben sich an der Paris School of Economics unterhalten, einer Graduierten-Hochschule, irgendwann im vergangenen Jahr, vor der amerikanischen Wahl.
Zwischen den echten Problemen und der Öffentlichkeit liegen hier noch keine Bullshit-Dekrete Genaueres erfährt man über die Geschichte des Buches nicht, aber sehr schnell erscheint einem die Tatsache, dass es vom neuesten Trump-Wahnsinn nichts weiß, wie ein Glücksfall. Die Lektüre ist das perfekte Gegengift zum „Flood the zone with shit“-Plan des Trump-Strategen Steve Bannon. Zwischen den echten Problemen und der Öffentlichkeit liegen hier noch nicht stapelweise Bullshit-Dekrete in der Gegend herum.
Stattdessen geht es einfach mal wieder um, genau, Gleichheit und Gerechtigkeit. Oder vielmehr darum, dass im Mittelpunkt fast aller Krisen die Tatsache steht, dass es um die Gerechtigkeit unter den Menschen, auch und gerade im Westen, schlimm bestellt ist. Die reichsten zehn Prozent, so die noch konservative Berechnung Pikettys, vereinen in Europa mehr als ein Drittel allen Einkommens auf sich und mehr als die Hälfte allen Vermögens. Und in den USA ist die Situation noch krasser.
Ein echtes Problem ist das, weil unter der Bedingung, dass in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem letztlich alles eine Ware mit einem Preis ist, der Zugang zu existenziellen Gütern wie Bildung, Gesundheit, Unterkunft, Verkehr oder Ernährung so unterschiedlich verteilt wird. Ganz zu schweigen davon, dass darunter auch die politische Gleichheit leidet, was also der Würde jedes einzelnen Bürgers und jeder einzelnen Bürgerin schadet – und damit dem Gefühl von Verbundenheit und Zugehörigkeit, dessen Bedeutung oft unterschätzt wird. Denn daraus entsteht erst das Verantwortungsgefühl jedes Einzelnen für das Allgemeine, das die Demokratie so dringend braucht. Ungleichheit ist viel mehr als ein wirtschaftliches Problem. Sie unterminiert letztlich die gesamte Ordnung.
So weit, so bedauerlich, aber auch so klar (wenn auch leider alles andere als trivial, was gerne verwechselt wird). Fahrt nimmt das Gespräch dort auf, wo es darum geht, was gegen diesen Missstand zu tun wäre. Sowohl Piketty als auch Sandel sind im weitesten Sinne Sozialdemokraten, insofern ist es keine Überraschung, dass sie klassische linke Lösungsideen umtreiben.
Dabei wagen sie sich allerdings viel weiter aus der Deckung, als es sozialdemokratische Politiker in der Regel in den vergangenen Jahrzehnten getan haben und tun: Das Ziel einer größeren Umverteilung von Reichtum etwa diskutieren sie sehr konkret am Beispiel stark progressiver Steuern, mit Spitzensteuersätzen bis zu 80 oder sogar 90 Prozent. Was schlagartig deutlich weniger verrückt klingt, wenn man von Piketty erfährt, dass der Spitzensteuersatz in den USA von 1930 bis 1980 tatsächlich bei 82 Prozent lag. Abgesehen davon, dass eine solche Steuer auch dabei helfen würde, die längst eklatante Lücke zu verkleinern, die zwischen den höchsten Gehältern in der Wirtschaft und denen in der Regierung klafft: „Wenn man staatliche Regulierungsbehörden mit den richtigen Leuten besetzen will und ihnen zwanzigmal weniger bezahlt als Google oder sonst wer, dann hat man ein Problem.“ Und die Lösung liege offensichtlich nicht darin, ihnen zwanzigmal mehr zu bezahlen, sondern in der Verringerung der Einkommensunterschiede. Das jedenfalls, so Piketty, sei, was sich historisch bewährt habe.
Auch die Mängel des Bildungssystems, die keine Naturkatastrophen sind, sondern nicht zuletzt durch die Politik linker Regierungen herbeigeführt wurden, werden ungewöhnlich konstruktiv diskutiert, etwa wenn es um den Mythos von der Meritokratie geht, die beschämend geringen Ausgaben für Berufsausbildungen oder wirklich effektive neue Wege, auch Kindern von armen Eltern einen Zugang zu höherer Bildung zu verschaffen.
Das Format „unmoderiertes Gespräch zwischen zwei Gelehrten, die sich nicht wirklich uneinig sind“ ist dabei Schwäche und Stärke zugleich. Beherzt kontrovers ist diese Unterhaltung natürlich selten und auch immer wieder kein Gespräch im engeren Sinne (und entgegen anderslautender Berichte auch alles andere als ein „Schlagabtausch“), dafür sind die oft mehrseitigen einzelnen Einlassungen der beiden schlicht zu lang, eher Ko-Referate als Beiträge einer echten Konversation. Hier und da ertappt man sich beim Zurückblättern, weil man nicht mehr sicher ist, wer eigentlich gerade spricht. Zudem erlauben sich leider beide, auf konkrete und interessante Fragen des jeweils anderen explizit nicht sofort zu antworten, sondern weitschweifige Exkurse voranzustellen – und erst zu antworten, wenn man die Frage schon fast wieder vergessen hat. Ein etwas strengeres Lektorat wäre hier sicher nicht falsch gewesen. Einerseits.
Mit anderen Worten: Dieses Buch kommt unscheinbar daher, ist aber das Buch für den Moment, in dem wir uns befinden. Man sollte es nicht nur lesen, wenn man eine etwas genauere Ahnung davon bekommen möchte, warum die Welt (oder immerhin der sogenannte „westliche“ Teil davon) gerade ist, wie sie ist. Man sollte es lesen, damit man nicht vergisst, dass gar nicht so unklar ist, was zu tun wäre. Und wie nötig es ist, noch einmal ziemlich neu darüber nachzudenken, was es heißen sollte, eine demokratische Gesellschaft zu sein.
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