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Roman I Empfohlen von Bernhard Heckler, Süddeutsche Zeitung
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»Motte« wird die Ich-Erzählerin von ihrem Vater genannt. Der Vater ist Arbeiter, Spieler, Trinker. Eigentlich hat Motte sogar zwei Väter: den einen, der schnell rennen kann, beim Spielen alle Verstecke kennt und sich auf alle Fragen eine Antwort ausdenkt. Und den anderen, der von der Werkshalle ins Büro versetzt wird, damit er sich nicht volltrunken die Hand absägt. Und das mit dem Alkohol, sagt die Mutter, war eigentlich bei allen Männern in der Familie so.Auch Motte trinkt längst mehr, als ihr gut tut. Schon als Kind hat sie beim Schützenfest Kellnerin gespielt und die Reste getrunken, bis ihr warm wurde. Jetzt, als junge Frau, schläft sie manchmal im Hausflur, weil sie mit dem Schlüssel nicht mehr das Schloss trifft. Ihr Freund stützt sie, aber der kann meistens selbst nicht mehr richtig stehen. Nur ihr Bruder, der Erzieher geworden ist, schaut jeden Tag nach ihr. Als bei ihrem Vater Krebs im Endstadium diagnostiziert wird, sucht Motte nach einem Weg, sich zu verabschieden - vom Vater und vom Alkohol.»Das Schwarz an den Händen meines Vaters« von Lena Schätte ist ein bewegender Roman über das Aufwachsen in einer Familie, die in den sogenannten einfachen Verhältnissen lebt und die zugleich, wenn es darauf ankommt, zusammenhält. Es ist ein harter, zarter Roman über die Liebe zu einem schwierigen Vater und den Weg ins Leben.
»Die Wucht des sich behutsam entfaltenden Textes trifft unmittelbar.« Aus der Begründung zur Verleihung des W.-G.-Sebald-Preises
Lena Schätte arbeitet als Psychiatriekrankenschwester in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen. Und hat einen unglaublich guten Roman über das Aufwachsen mit einem alkoholkranken Vater geschrieben – im Café eines Hagebaumarkts. Ein Ortsbesuch.
Die ganz und gar erstaunliche Schriftstellerin Lena Schätte, deren Sprache so direkt, dicht, zärtlich ist, wie man das nur sehr selten zu lesen bekommt, wartet schon am Bahnhof im nordrhein-westfälischen Altena, 45 Minuten mit dem Regionalzug von Dortmund entfernt. Hier ist sie aufgewachsen, hier lebt sie auch heute. Altena ist eine kleine, nicht besonders wohlhabende Stadt im Sauerland, die sich im Lennetal erstreckt. Im Nachbarort Lüdenscheid arbeitet Schätte als Psychiatriekrankenpflegerin mit Suchtkranken. Heute ist ihr freier Tag. „Erst mal zeige ich dir, wo ich das Buch geschrieben habe“, sagt sie.
Wir fahren mit dem Auto den Fluss entlang und passieren eine Fabrikruine. „Das war die alte Werkhalle, in der mein Vater gearbeitet hat“, sagt sie. Beim Hochwasser 2021, als das Ahrtal verwüstet wurde, sei auch hier der Fluss weit über die Ufer getreten, er habe sämtliche nahe stehenden Häuser schwer beschädigt. Das Werk sei vollgelaufen. In ihrem Roman beschreibt Schätte, wie ihr Vater von der Werkshalle ins Büro versetzt wird, weil seine Kollegen Angst haben, dass er sich volltrunken die Hand absägt.
„Das Schwarz an den Händen meines Vaters“ ist ein autofiktionaler Roman über das Aufwachsen der Ich-Erzählerin mit einem schwer alkoholkranken Vater, und schließlich vom Versuch des Abschiednehmens, als bei ihm Krebs im Endstadium diagnostiziert wird. Autofiktion deshalb, weil die Autorin keinen dokumentarischen Wahrheitsanspruch erhebt und ihre Angehörigen schützen will. Auch, um eine erträgliche Form für ihre Geschichte zu finden. „Hätte ich es autobiografisch gemacht, wäre es unglaubwürdig geworden. Die Leser hätten es für erfunden halten können, wie viel Scheiße einer einzigen Familie passieren kann.“
Das jetzt erscheinende Buch ist trotz des vergleichsweise jungen Alters von Lena Schätte (Jahrgang 1993) nicht ihr Debüt. Ihren ersten Roman „Ruhrpottliebe“ beendete sie im Alter von 18 Jahren, er erschien 2014 im inzwischen nicht mehr existenten Marlon-Verlag. Weil sich der Welterfolg nicht sofort einstellte, wie die humorbegabte Autorin erzählt, habe sie nach der Veröffentlichung angefangen, als Krankenschwester zu arbeiten. 2020 habe sie es im fünften Anlauf an das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig geschafft, wo sie dann Kreatives Schreiben studierte. Das ist dort ohne Abitur möglich.
In vielen autofiktionalen Büchern, die vom Aufwachsen in prekären Verhältnissen handeln, ist die Schonungslosigkeit in der Beschreibung der familiären Figuren das prosaische Programm, die erzählerische Strategie zur Selbstrettung und -befreiung. Im Kontrast dazu ist an Schättes Buch die Rücksichtnahme trotz aller Härte des Geschilderten bemerkenswert, das entfaltet eine zarte Wucht. Man spürt die Not der parentifizierten Tochter, der nichts übrig bleibt, außer sich zu kümmern, die den Vater aus der Spielhalle zieht oder im Vorgarten weckt, wenn er mit dem Schlüssel mal wieder das Loch nicht getroffen und draußen übernachtet hat. „Ich schau mir nur die Sterne an“, sagt er dann. Die einzelnen, kurzen Kapitel überlagern sich auf knapp 200 Seiten, ein Mosaik der Beschädigungen, die in Summe irreparabel sein müssen, aber um das Reparieren geht es Lena Schätte nicht.
Der Vater nennt seine Tochter Motte. „Dass das kein schönes Tier ist, sage ich ihm oft. Und dann zähle ich ihm auf, wie andere Väter ihre Töchter nennen. Wir sind halt nicht wie die, sagt er dann und lacht.“ Motte schaut sich ein Fotoalbum ihrer Familie an: „Meine Vorfahren sehen ausgemergelt, erschöpft und betrunken aus“, steht dort. „Ich betrachte die Bilder und versuche, mir eine Version unserer Familie vorzustellen, in der die Frauen trinken. In der die Männer sonntagmorgens die Kinder aus dem Bett holen, den Zeigefinger auf die Lippen gelegt, den ganzen Tag mit ihnen auf den Spielplatz gehen, damit es in der Wohnung still genug zum Ausnüchtern ist.“
In Leipzig sei sie mit ihrem Schreiben immer wieder mit Klassismus-Vorwürfen konfrontiert gewesen. Am Literaturinstitut dort diskutieren Studierende, von denen viele ihr Studium nicht selbst finanzieren müssen, in kleinen Klassen über Texte. Nicht immer verstehen alle alles richtig, manchmal sagen manche ganz besonders gut gemeinte Sachen. So was wie: Immer seien die Trinker bei Lena Schätte nur Männer, und die Frauen nur malochende Co-Abhängige, die den Haushalt schmeißen und versuchen, die Familie am Laufen zu halten. Das reproduziere Klischees, lautet dann der Vorwurf. „Aber das sind nun mal die Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin“, sagt Schätte.
Mit dem Klassenroman ist es ja so ein Ding. Welcher ist keiner? Es ist ja nicht so, als seien all die pastell- oder neonfarbenen Coming-of-Age-Romane, die beschreiben, wie es ist, in den Nullerjahren in der schwäbischen Provinz aufzuwachsen, das erste Mal heimlich auf dem Gymnasiumsklo mit Vivien rumzuknutschen, und dabei immer wieder zwischen dem Toilettengeruch und dem Geschmack ihrer Zunge hin- und herzuwechseln, keine Klassenliteratur. Nur halt die einer anderen Klasse.
Lena Schätte sei fachlich von ihrer Zeit am Literaturinstitut begeistert gewesen, sagt sie. Aber sie habe nie ganz aufgehört, sich fremd zu fühlen. „Ich war ein Zirkuspferd, das bewundert werden wollte.“
Wir erreichen den benachbarten Ort Neuenrade und fahren auf den Parkplatz des örtlichen Hagebaumarkts. „Hier habe ich das Buch geschrieben“, sagt Schätte. Im Baumarktcafé. Es hat eine Terrasse, auf die schön die Sonne scheint. Zu Hause könne sie nicht schreiben, in Altena gebe es keine Bibliothek, und die Inhaber der wenigen Cafés und Backshops „haben keinen Bock, dass bei ihnen jemand den ganzen Tag mit dem Laptop rumhockt mit einem Cappucino für zwei fünfzig.“ Hier aber würde sich keiner groß dafür interessieren, dass sie stundenlang sitze und arbeite.
Im Buch stirbt an einer Stelle Mottes Kater. Die Familie begräbt das Tier im Garten. „Später platze ich in das Zimmer meines Bruders. Du machst hier seelenruhig deine Hausaufgaben, ja? – Ja, und? – Warum müsst ihr nur so sein, du und Mama? Euch ist alles scheißegal! Er wirft den Bleistift auf sein Heft. Warum müsst ihr denn so sein, ihr seid so weich, und euch tut immer alles weh! “ So sei es gewesen, sagt Schätte. Der Vater und die Tochter waren die mit den vielen Gefühlen. Der Vater habe immer verstanden, warum sie schreibe. „Weil es mein Weg ist, das Leben auszuhalten.“
Später sitzen wir zusammen in der Dorfkneipe „Alte Drahtrolle“. Schätte kennt den Besitzer, er hat ihr den Schlüssel gegeben. Gemütliches Gewölbe, unverputzte Wände, lange Tradition. „Alle sagen nur Rolle“, erklärt die Gastgeberin, „Draht ist das große Ding hier in Altena.“ Die meisten Fabriken der Gegend produzieren Draht. „Hier trifft man sich am Wochenende, redet, tanzt und betrinkt sich.“ Wer darüber hinausgehend was erleben wolle, fahre nach Dortmund.
Mit dem Stiel eines Wischmopps versuchen wir, den richtigen Schalter am sehr schwer zugänglichen Sicherungskasten unter der Treppe umzulegen, schließlich erfolgreich, der Kühlschrank beginnt zu brummen. Was, wenn der Welterfolg jetzt doch kommt, mit dem zweiten Buch? Sie würde trotzdem weiter in der Suchthilfe arbeiten, sagt sie. Auch weiterhin in die Wohnungen gehen, in die man eher nicht gehen will. Sie habe sich mit den Jahren an die Reizdichte dieser Arbeit gewöhnt, nur Schreiben komme ihr als Lebensentwurf zu leer vor.
Dass sie jetzt ein Buch auch über Alkoholismus geschrieben hat, finden im Dorf nicht alle gut, sagt sie. Einige fühlten sich angegriffen, so als würde sie ihnen den Spaß am Trinken verderben wollen.
Sie kenne diese Sehnsucht, erzählt sie bei unserer letzten Station, einem Kaffee oben auf der Burg Altena, ein bisschen weniger zu sehen, ein bisschen weniger zu verstehen, ein bisschen weniger zu spüren. Manche Menschen sind wie Stromkabel ohne ausreichende Ummantelung. Lena Schätte trinkt sehr selten, sagt sie, nur etwa dreimal im Jahr. Dann aber eine halbe Flasche Korn mit Fanta. .
Apropos Strom. Eine der tausend fantastischen Stellen im Buch: „Meine Mutter nennt meinen Vater unseren Erzeuger. Ich stelle mir unsere Körper wie leuchtenden Strom vor und meinen Vater, der auf einem festgestellten Fahrrad schwitzend strampeln muss, damit es uns gibt.“ .
Noch eine Stelle. Der Vater will etwas mit der Tochter unternehmen, aber erscheint rettungslos betrunken. „Ich rede mir ein, dass es nur so schlimm ist, weil ich mich so auf heute gefreut habe, und dass es vielleicht besser ist, sich nicht mehr zu freuen.“ .
Noch eine Stelle. Die Familie sieht gemeinsam Sitcoms. „Jede Katastrophe nur ein Witz, das Publikum lacht von irgendwoher, und in der nächsten Folge ist alles wieder vergessen, alles gut.“ Noch eine Stelle. „Und ich erzähle, dass mein Vater tot ist. Mal war es ein Autounfall, mal hat er sich aus dem Leben getrunken. Dass ich bei Verwandten aufgewachsen bin oder dass mein älterer Bruder mich aufgezogen hat. Ich weiß nicht, warum ich das mache.“ .
Die Erfindung der Biografie aus Notwehr. Es gibt Menschen, für die ist das nicht erklärungsbedürftig. Diese Menschen werden in diesem Roman Trost finden. Und alle Menschen, die trostunabhängig auf der Suche nach herausragender Literatur sind, werden einen konzentrierten, dichten, kondensierten Text entdecken, ohne ein einziges überflüssiges Wort, der innerhalb von nur drei Monaten im Hagebaumarkt Neuenrade aus einer Schriftstellerin herausgeflossen ist, der aber ein ganzes Leben Vorbereitung brauchte. Nicht nur ein außergewöhnlich gutes Buch, sondern ein Buch, das geschrieben werden musste. .
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