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Beziehungen zwischen älteren Frauen und jüngeren Männern und Fakten, um informiert über Reiche zu schimpfen: die Bücher des Monats im Januar. Von SZ-Autorinnen und Autoren
Ja, es geht in dieser Geschichte um eine 54 Jahre alte Schriftstellerin, die mit einem Studenten schläft, der fast dreißig Jahre jünger ist. Den amerikanischen Standardplot, bei dem so eine Liebe für die Frau zum sozialen und finanziellen Ruin wird, bei dem sie noch einsamer und älter wird, sucht man allerdings vergeblich. Annie Ernaux beschreibt nicht den tragischen Versuch, sich selbst zu verjüngen. Auch keine Affäre, die jemanden die Würde kosten wird. Ganz im Gegenteil, die Geschichte ist: Eine Künstlerin findet ihre Muse. So einfach. Sie macht eine Erfahrung, die sie sich selbst und ihr Schreiben neu sehen lässt, und teilt es ungeniert mit. Obwohl es bei Ernaux sonst so viel um Scham und Schuld geht. Hier nicht. Und nebenbei beweist sie auch: Beziehungen älterer Frauen mit viel jüngeren Männern ergeben die schönsten Geschichten.
Barthes hat kein Buch über Proust geschrieben. Was er zu Lebzeiten über ihn publizierte, füllt kaum fünfzig Druckseiten. Doch die Proust-Lektüre, die er im Alter von siebzehn Jahren begann, hatte in seinem Leben stets eine große Bedeutung - je älter er wurde, desto mehr Raum nahm in seinen Karteikarten, Aufsätzen und Vorlesungen die Akkumulation von biografischem Wissen über Proust ein. Seine Lektüre war eine, die immer unvollständig blieb, Abbrüche kannte und Abstoßungen, Ablehnungen ganzer Bände und Wiedergewinnungen. Manche der hier versammelten Aufsätze und Notizen, in denen das sichtbar wird, sind im Deutschen schon bekannt. Trotzdem: Wer dieses Buch liest, um Aufschlussreiches über Marcel Proust und dessen Werk zu erfahren, wird nicht enttäuscht.
Pünktlich zu Ostern ziehen die Räuber durch Lapvona, ein fiktives Fürstentum, töten ein paar Männer, Frauen und Kinder, stecken Habseligkeiten ein und hinterlassen Trauer, Rachsucht und Ratlosigkeit - sie verschonen jedoch den Lammhirten und seinen krumm gewachsenen Sohn. Bald begeht dieser einen Mord, der Mörder selbst aber wird nicht bestraft, stattdessen adoptiert ihn der Fürst. Spätestens als der Sommer die Dürre bringt, fragt man sich: Ist das jetzt die Strafe? Ottessa Moshfegh zelebriert auch in ihrem neuen Roman das Abstoßende, Kreatürliche, Würdelose, das mit dem Dasein als Mensch immer auch einhergeht. Hunger, Vergewaltigung, Leibeigenschaft. Seuchen, Dürre, Flut. Menschen, die Menschen essen - nichts bleibt ausgespart. Dumpf wird diese Gewalt nie. Erst inmitten der überbordenden Grausamkeit entfalten die Momente der Gnade ihre berauschende Wirkung.
Angesichts des Sturms auf das Parlament in Brasilia und des immer noch nicht aufgearbeiteten Sturms auf das Kapitol in Washington ist Barbara F. Walters Buch über Staaten am Abgrund topaktuell. Die Politikwissenschaftlerin ist Expertin für Bürgerkriege und untersucht seit langer Zeit, warum und wie Demokratien ins Chaos stürzen. Nicht die ärmsten, nicht die repressivsten oder ethisch vielfältigsten Länder seien da in Gefahr, sondern die, die ein gestörtes Verhältnis zur Demokratie vorweisen. Und diese Faktoren findet Walter seit der Trump-Präsidentschaft auch in den USA. Vor allem zeigt sie eindrucksvoll auf, dass viele Bürger vom Abgleiten der Demokratie in eine Autokratie oft nichts mitbekommen. Und irgendwann ist es zu spät.
Nach Schätzungen fielen 220 000 bis 500 000 Sinti und Roma dem Rassenwahn der Nationalsozialisten zum Opfer. Es dauerte bis zum Jahr 1982, bis Kanzler Helmut Schmidt diese systematischen Mordtaten für die Bundesrepublik als Völkermord anerkannte. Sebastian Lotto-Kusche zeichnet den langen Weg der überlebenden Familien zu Entschädigungsleistungen nach und zeigt, wie alte NS-Seilschaften in den Ministerien alles daransetzten, die Opfer-Anerkennung zu hintertreiben. Die NS-Maßnahmen seien "kriminalpräventiv" gewesen, rassistische Verfolgung oder gar einen Völkermord habe es nicht gegeben. Lotto-Kusche holt mit seinem Buch die Minderheit aus den marginalisierten Zonen der Minderheitengeschichte heraus.
"Eine Handvoll Superreicher amüsiert sich auf dem Meer - na und?", fragt Grégory Salle in seinem neuen Buch - und beantwortet die Frage gleich selbst: "Na und: alles." Für den französischen Soziologen zeigen sich an Yachten gleich mehrere charakteristische Merkmale dieser Epoche. Da wäre die wirtschaftliche Ungleichheit, die sich in unglaublichen Summen zeigt - eine Yacht über Wasser zu halten, kostet die Eigner etwa 10 Prozent der Herstellungskosten pro Jahr. Die juristische Ungerechtigkeit, die bei den rechtlosen Crewmitgliedern sichtbar wird. Da wäre die Klimakrise - Salle zeigt, warum es sich auch bei den prächtigsten Yachten im Kern um ein ständig vergammelndes, rostendes, schwindendes Nichts handelt. Die gute Nachricht: Wer über Megareiche und ihre schwimmenden Investitionen schimpft, ist nicht lediglich kleinlich oder neidisch, sondern empört sich völlig zu Recht.
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