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Helene Brachts Essay „Das Lieben danach“: Hört hin! Empfohlen von Meredith Haaf, Süddeutsche Zeitung.
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Ist endlich der Moment für eine ehrliche Auseinandersetzung mit Missbrauch an Kindern gekommen? Das lässt das große Interesse am Essay „Das Lieben danach“ der Psychologin Helene Bracht und ähnlichen Werken hoffen
Sie muss etwa sieben, acht Jahre alt gewesen sein, als sie aufhörte zu sprechen. In ihren Schulzeugnissen vermerkten die Lehrkräfte, man könne sie nicht beurteilen, da sie nichts sage. Gelegentlich betrachtete die Mutter ihr Kind und „sinnierte: ‚Du bist wie eine Sphinx, Kind, wenn ich nur wüsste, was in dir vorgeht‘“, so erzählt in ihrem Buch „Das Lieben danach“ Helene Bracht von ihrer Kindheit: „Ich bleibe stumm. Weiß gar nicht so genau, warum das so ist, es fühlt sich einfach richtig an, nichts zu sagen.“ So ein Kind ist, das weiß die Psychologin Bracht heute, eine unhörbare Alarmsirene. Doch ruhige Kinder werden ja gern genau so akzeptiert, wie sie sind, sie wecken selten die Aufmerksamkeit der Erwachsenen, das gilt auch im Jahr 2025. Im ohnehin wenig mitteilsamen Nachkriegsdeutschland, in dem sich das Erzählte ereignet, galt das wohl erst recht.
Doch das Schweigen ist ein Panzer, den die kleine „Leni“ (Helene Bracht ist der Künstlername, den die Autorin gewählt hat) über sich und das, was regelmäßig mit ihr im eigenen Elternhaus getan wird, gestülpt hat. Erst als die Mutter einer Blutspur in der Unterhose des Kindes nachgeht, kommt die unaussprechbare Ursache heraus: Der Untermieter der Familie, ein abgehalfterter Pseudo-Literat namens Strecker, hat sie mit seinen ungepflegten Händen verletzt, die inzwischen Achtjährige hatte es kommen sehen, als er sich ihr mal wieder näherte: „Der Nagel an Streckers Mittelfinger ist sogar noch eingerissen, habe ich gesehen, ein Stück abgebrochen, die Kante ist ganz schartig, das wird elend weh tun.“
So endet das, was Helene Bracht heute als ihre „erste Liebeserfahrung“ bezeichnet. Das ist umso interessanter, weil die heute 70-jährige hauptberuflich Psychologin ist und, anders als es die klassische Entwicklungspsychologie will, eben nicht die Mutter oder den Vater als erstes Liebesobjekt ihres Lebens identifiziert. Strecker wird aus dem Haus geworfen, er verabschiedet sich nicht einmal von Helene. Das Kind bleibt zurück, verwirrt und vor allem beschämt: „Woran ich mich (...) erinnere, ist das Schweigen in den folgenden Wochen und Monaten. Die wabernde, dicke Luft am Abendbrottisch, die Blicke meiner Mutter auf mich, voller Pein, Abscheu, Sorge.“ Der Vater schaut ihr nicht mehr in die Augen. Viel später wird Helene von ihrer Mutter erfahren, dass sie sich so geschämt habe: Nicht etwa vor sich selbst, sondern für ihre Tochter: „Du warst doch die vom Kinderschänder Geschändete.“
Die Härte, aber auch Stärke, die in der Missbrauchsbeziehung entsteht, bleibt aufzuarbeiten Die moralische Beurteilung von Täter und Opfer hat sich in den vergangenen sechzig Jahren weiterentwickelt, aber mit den emotionalen und kulturellen Verarbeitungsmustern ist es nicht ganz so weit gekommen. Brachts Buch kann man, was das betrifft, durchaus als Durchbruch bezeichnen. Obwohl es ihre eigene Geschichte erzählt und einer ganz besonderen Frage nachgeht – wie hat jene „Liebeserfahrung“, die sie als Zuwendung und nicht als Gewalt erlebte, ihr Beziehungsverhalten unterfüttert –, fügt sich das Buch in eine kleine geistige Bewegung ein, die zum Thema Missbrauch derzeit in Gang ist und vor allem von Autorinnen angeführt wird. Es geht dabei um die Subjektivierung einer Erfahrung, die als objektiv schrecklich gedacht wird und der im allgemeinen schlimme Folgen nachgesagt werden. Brachts Buch, auch zuletzt das meisterhafte Memoir „Trauriger Tiger“ der Französin Neige Sinno oder der Roman „Bye-Bye, Lolita“ von Lea Ruckpaul arbeiten die innere und äußere Härte auf, aber auch die extreme Stärke, die bei einer schutzlosen Person in der Missbrauchsbeziehung entsteht.
Missbrauch und besonders das Verbrechen des Kindesmissbrauchs ist immer ein gesellschaftliches Thema, gerade bekommt es aber eine besondere Sichtbarkeit, hat ein kulturelles Momentum. Während man sich mit den genannten Büchern beschäftigte, erschütterte auch der Skandal um Alice Munro die lesende Welt: Der Ehemann der Literaturnobelpreisträgerin, die 2024 starb, hatte ihre Tochter sexuell belästigt, die Autorin hatte davon gewusst, aber keine Konsequenzen gezogen. Einer Statistik zufolge werden allein in Deutschland jeden Tag 54 Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht. Die Zahlen steigen, warum, weiß man nicht so genau: Kann sein, dass mehr angezeigt wird, kann sein, dass mehr davon in Bildern dokumentiert und geteilt wird. Ganz sicher ist die pornografische Ausbeutung von Kindern mit der technologischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte explodiert. Einer anderen Berechnung zufolge sitzt durchschnittlich in jeder Schulklasse ein Kind, das Missbrauch erlebt, das Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen ist 1:2. Mädchen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen sind überdurchschnittlich oft betroffen.
Pein und Schweigen sind in gewisser Weise noch immer die gebräuchlichsten Techniken im Umgang mit diesen Tatsachen. In Deutschland hat mindestens jeder siebte Erwachsene in seiner Kindheit Missbrauch erlebt. Das ist nicht gerade wenig – und dennoch geht von dem Thema eine Art diskursive und emotionale Finsternis aus. Sie ist in gewisser Weise das Ergebnis der erfolgreichen Tabuisierung von Sexualbeziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern, die vor allem im 20. Jahrhundert gerade in alternativen und intellektuellen Milieus normalisiert und verherrlicht wurden. Es ist auch Empathie im Spiel: Das Kräfteverhältnis zwischen erwachsenen Tätern und jungen Opfern ist so überwältigend ungleich, die Grenzüberschreitung so abstoßend, die körperliche Überwältigung, die ein Kind durch einen Erwachsenen erfahren kann, so furchteinflößend total. Wem da aber schwarz vor Augen wird, sieht oft das Kind selbst nicht mehr. Es ist Opfer, Beute, Objekt – und in der Vorstellung vieler bleibt es für den Rest seines Lebens genau das.
In „Das Lieben danach“ räumt Helene Bracht mit dieser Vorstellung nun nicht unbedingt auf. Ohnehin ist dieser literarische Essay kein Buch, das mit irgendetwas abrechnet oder sonst wie Ordnung stiftend in den Diskurs eingreift. Kühl und zugleich aufwühlend, verkopft und zugleich geradezu körperwarm erzählt und sortiert Bracht vielmehr Gefühl und Verhalten: Als Kind zu glauben, man befinde sich in einer ebenbürtigen Beziehung zu einem Mann, den man vor den anderen Erwachsenen schützen muss; dass die Schmerzen und das Unwohlsein der Preis sind, den man für Nähe und Zuwendung eben zahlt. Als Erwachsene den Erlebnissen niemals Rechnung zu tragen; selbst und selbstherrlich zur erotischen Aggressorin zu werden, in der Liebe den Falschen zu vertrauen und den Richtigen zu misstrauen: „Der Defekt, den ich davongetragen habe, lässt sich eher als Mangel an Trittsicherheit beschreiben: Ich kann nur schlecht einschätzen, ob der Boden trägt oder nicht.“
Und doch bleibt natürlich bei aller souveränen Reflektiertheit und Differenzierung, bei der Intellektualisierung und Offenheit, die Bracht wie auch Sinno ausschreiben, immer ein Dunkel, eine tiefe Einsamkeit, an der die Leserin nicht vorbeischauen kann und auch nicht soll. Und je länger man Sinno liest, je genauer man Brachts Selbstbeobachung verfolgt, umso überwältigender wird der Eindruck, möglicherweise selbst schon die ein oder andere stumm gellende Sirene überhört zu haben. Umso fragwürdiger werden plötzlich manche Beobachtungen oder Erlebnisse der eigenen Kindheit. Umso stärker der Ekel vor denen, die das Schutzlose, Bedürftige ausfindig machen und für ihren Lustgewinn nutzen.
Es ist keine angenehme Erfahrung, da mit hinunterzusteigen, wo diese Frauen waren, als sie kleine Mädchen waren. Aber es ist ein Geschenk, von ihnen mitgenommen zu werden. Wenn man verstehen will, was Menschen sind, kann man es dankend annehmen.
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