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Coming-of-Age-Roman: Du siehst aus wie Nora Tschirner. Empfohlen von Christine Knödler.
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In „Death in Brachstedt“ verliert ein Teenager seinen Vater an die Demenz – und flüchtet sich in Filme. Ein Buch über den Halt, den Tarantino und „Tatort“ bieten können.
Vollständige Rezension anzeigen Coming-of-Age-Roman: Du siehst aus wie Nora Tschirner. Empfohlen von Christine Knödler. Als mitten in der Nacht Leos Vater verschwindet, läuft der Fernseher, ausgerechnet der Papst spricht. Leo, 15, kennt solche Situationen aus dem „Tatort“, denn der flimmert jeden Sonntagabend bei Vater und Sohn durchs Wohnzimmer. Die beiden leben allein, die Mutter ist schon vor Jahren an Krebs gestorben. „Kurz vor Tatort“ ist eine familieninterne Zeitrechnung, Leo findet die Krimis „ultralangweilig“ – nur Christian Ulmen und Nora Tschirner mag er. Entsprechend heißt das erste Kapitel „Nora“. Viel später wird Leo Maja, in die er sich verliebt, ein außergewöhnliches Kompliment machen: „Du siehst aus wie Nora Tschirner.“ Solche Bezüge zu Fernsehen, Film und Popkultur gibt es viele in diesem Roman, sie sind sein Koordinatensystem. Schon das Cover macht es vor: Death in Brachstedt, wahrscheinlich eine Anspielung auf „Death in Venice“, Luchino Viscontis „Tod in Venedig“-Verfilmung von 1957, steht in gelben Lettern auf einem Film-Negativ. Der Film, das Filmen, das Festhalten in Bildern wird wichtig werden. Es bahnt sich etwas an im Leben von Leo und seinem Vater, das bisher so übersichtlich um den „Tatort“ am Sonntagabend kreiste. Seit einiger Zeit macht Leos Vater seltsame Dinge. Er beißt Bananen an und legt sie irgendwo ab. Er vergisst viel, verläuft sich, verliert die Orientierung. Er ist an Demenz erkrankt. Unterrichten, er ist eigentlich Lehrer, kann er schon lange nicht mehr. „Kladderadatsch mit meinem Vater“, nennt Leo das. Vater und Sohn haben eine sehr fundamentale Verunsicherung gemeinsam Als Perspektive ist das neu. Die Beschäftigung mit Demenz betrifft in der Jugendliteratur bislang vor allem Großeltern und Enkelkinder. Bei Tobias Wagner wird sie zum Ausgangspunkt einer erzählerischen Engführung zwischen der Demenz eines Vaters und dem Coming-of-Age seines Sohnes. Der eine ist erwachsen, aber verwirrt. Durch die Krankheit verliert er die Kontrolle über sein Leben. Der andere wird erwachsen. Wie er leben will, muss er erst noch herausfinden. Sie haben etwas gemeinsam, was Eltern und Kinder sonst nicht unbedingt gemeinsam haben: eine sehr fundamentale Verunsicherung. „Death in Brachstedt“ ist ein hochambitioniertes Debüt, Tobias Wagner hat dafür den Peter-Härtling-Preis bekommen, einen der renommiertesten der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. Der Verlag Beltz & Gelberg hat ihn zum 50. Geburtstag seines berühmten Autors initiiert, seitdem vergibt er ihn alle zwei Jahre. Die Manuskripte werden mit einem Preisgeld gewürdigt – und verlegt. Bald nimmt Leos Tante Lisa ihren Bruder auf – Leo hat unverhofft sturmfrei. Mit seinem besten Freund Henri plant er eine Party, Filmvorführung inklusive, schließlich sind beide begeisterte Cineasten, Henri ist sogar ein echter Experte. Den Film, der auf ihrer Party gezeigt werden soll, drehen sie selbst, für Leo ist das eine Premiere. Er wird als Schauspieler für fast alle Rollen besetzt, Henri übernimmt Kamera, Regie, Schnitt. Darin ist er brillant. In Henris Zimmer hängen Filmplakate von Tarantino-Filmen, „The Shining“, „Der Pate“, „Matrix“, „The Big Blue“. Später will er Filmemacher werden. „Death in Brachstedt“ soll ein Kurzfilm werden, ein Kunstfilm ohne Worte. Alexander Kluge lässt grüßen, auf ihn stößt Leo im Lauf der Dreharbeiten und muss ihn, klar, erst mal googeln. Auch eine Location haben die Jungs schnell gefunden: das Hotel in der Pampa von Henris Onkel Falco, der ebenfalls mitspielen wird. Zwei Tage haben sie Zeit für die Arbeit an ihrem Film – sie wird, Vorsicht Kalauer, völlig abgedreht. In der Fiktion des Films gibt es einen Verfolgten, einen Verfolger, ein Verbrechen. „Am nächsten Tag schnitten wir Onkel Falco die Kehle durch“, heißt es lapidar, dafür rühren die Jungs Kunstblut an. Tobias Wagner beschreibt das, als würde er mit der Kamera erzählen: In langen Einstellungen verweilt sein Blick auf Details, er blendet zurück, zoomt heran, lässt sich Zeit. Auch auf die Party von Leo und Henri, die ein rauschendes Fest wird, der Kurzfilm: ein Ereignis. Leo wird mit Maja tanzen, es wird viel getrunken. Filmrisse gibt es in dieser Nacht nicht nur bei Leos Vater. Für all das zündet Tobias Wagner ein Feuerwerk popkultureller Hinweise. Neben Nora Tschirner und Alexander Kluge schaffen es auch Jürgen Vogel und Ryan Gosling auf die Liste der Kapitelüberschriften. Ohne Google geht wenig, sogar Dechiffrierungs-Fans kommen an ihre Grenzen. Eltern werden vielleicht herausfinden müssen, wer Tony Stark noch einmal war: das Alter Ego des Superhelden Iron Man aus den Marvel-Comics und Kino-Blockbustern. Junge Leser müssen ergründen, wer Sigourney Weaver ist: einer der ersten weiblichen Stars des Actionfilms. Auch Leo und sein Vater haben eine gemeinsame Film- und Fernsehgeschichte. Motivisch setzt Tobias Wagner ihrer Entfremdung durch die Demenz die Strategie entgegen, das Leben, das sein Vater gerade vergisst, in Bildern festzuhalten. Auch das Spiel mit der Wirklichkeit, die Verfremdung durch den Blick der Kamera bekommen zusätzliche Bedeutung: Es sind Versuche, sich die eigene Geschichte anzueignen. „Von einem Menschen“, hat Leos Mutter kurz vor ihrem Tod gesagt, „bleibt nur wenig. Keine Gedanken. Keine Gefühle. Die anderen können dir nicht in den Kopf gucken. Einzig deine Taten können erinnert werden. ‚Mach dir schlaue Gedanken, aber du musst sie sichtbar machen.‘“ „Death in Brachstedt“ versucht genau das. Der Autor riskiert viel, nicht alles geht auf, aber es ist ein kühner Anfang.
Als mitten in der Nacht Leos Vater verschwindet, läuft der Fernseher, ausgerechnet der Papst spricht. Leo, 15, kennt solche Situationen aus dem „Tatort“, denn der flimmert jeden Sonntagabend bei Vater und Sohn durchs Wohnzimmer. Die beiden leben allein, die Mutter ist schon vor Jahren an Krebs gestorben. „Kurz vor Tatort“ ist eine familieninterne Zeitrechnung, Leo findet die Krimis „ultralangweilig“ – nur Christian Ulmen und Nora Tschirner mag er. Entsprechend heißt das erste Kapitel „Nora“. Viel später wird Leo Maja, in die er sich verliebt, ein außergewöhnliches Kompliment machen: „Du siehst aus wie Nora Tschirner.“
Solche Bezüge zu Fernsehen, Film und Popkultur gibt es viele in diesem Roman, sie sind sein Koordinatensystem. Schon das Cover macht es vor: Death in Brachstedt, wahrscheinlich eine Anspielung auf „Death in Venice“, Luchino Viscontis „Tod in Venedig“-Verfilmung von 1957, steht in gelben Lettern auf einem Film-Negativ. Der Film, das Filmen, das Festhalten in Bildern wird wichtig werden.
Es bahnt sich etwas an im Leben von Leo und seinem Vater, das bisher so übersichtlich um den „Tatort“ am Sonntagabend kreiste. Seit einiger Zeit macht Leos Vater seltsame Dinge. Er beißt Bananen an und legt sie irgendwo ab. Er vergisst viel, verläuft sich, verliert die Orientierung. Er ist an Demenz erkrankt. Unterrichten, er ist eigentlich Lehrer, kann er schon lange nicht mehr. „Kladderadatsch mit meinem Vater“, nennt Leo das.
Vater und Sohn haben eine sehr fundamentale Verunsicherung gemeinsam Als Perspektive ist das neu. Die Beschäftigung mit Demenz betrifft in der Jugendliteratur bislang vor allem Großeltern und Enkelkinder. Bei Tobias Wagner wird sie zum Ausgangspunkt einer erzählerischen Engführung zwischen der Demenz eines Vaters und dem Coming-of-Age seines Sohnes. Der eine ist erwachsen, aber verwirrt. Durch die Krankheit verliert er die Kontrolle über sein Leben. Der andere wird erwachsen. Wie er leben will, muss er erst noch herausfinden. Sie haben etwas gemeinsam, was Eltern und Kinder sonst nicht unbedingt gemeinsam haben: eine sehr fundamentale Verunsicherung. „Death in Brachstedt“ ist ein hochambitioniertes Debüt, Tobias Wagner hat dafür den Peter-Härtling-Preis bekommen, einen der renommiertesten der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. Der Verlag Beltz & Gelberg hat ihn zum 50. Geburtstag seines berühmten Autors initiiert, seitdem vergibt er ihn alle zwei Jahre. Die Manuskripte werden mit einem Preisgeld gewürdigt – und verlegt.
Bald nimmt Leos Tante Lisa ihren Bruder auf – Leo hat unverhofft sturmfrei. Mit seinem besten Freund Henri plant er eine Party, Filmvorführung inklusive, schließlich sind beide begeisterte Cineasten, Henri ist sogar ein echter Experte. Den Film, der auf ihrer Party gezeigt werden soll, drehen sie selbst, für Leo ist das eine Premiere. Er wird als Schauspieler für fast alle Rollen besetzt, Henri übernimmt Kamera, Regie, Schnitt. Darin ist er brillant. In Henris Zimmer hängen Filmplakate von Tarantino-Filmen, „The Shining“, „Der Pate“, „Matrix“, „The Big Blue“. Später will er Filmemacher werden.
„Death in Brachstedt“ soll ein Kurzfilm werden, ein Kunstfilm ohne Worte. Alexander Kluge lässt grüßen, auf ihn stößt Leo im Lauf der Dreharbeiten und muss ihn, klar, erst mal googeln. Auch eine Location haben die Jungs schnell gefunden: das Hotel in der Pampa von Henris Onkel Falco, der ebenfalls mitspielen wird. Zwei Tage haben sie Zeit für die Arbeit an ihrem Film – sie wird, Vorsicht Kalauer, völlig abgedreht.
In der Fiktion des Films gibt es einen Verfolgten, einen Verfolger, ein Verbrechen. „Am nächsten Tag schnitten wir Onkel Falco die Kehle durch“, heißt es lapidar, dafür rühren die Jungs Kunstblut an. Tobias Wagner beschreibt das, als würde er mit der Kamera erzählen: In langen Einstellungen verweilt sein Blick auf Details, er blendet zurück, zoomt heran, lässt sich Zeit. Auch auf die Party von Leo und Henri, die ein rauschendes Fest wird, der Kurzfilm: ein Ereignis. Leo wird mit Maja tanzen, es wird viel getrunken. Filmrisse gibt es in dieser Nacht nicht nur bei Leos Vater.
Für all das zündet Tobias Wagner ein Feuerwerk popkultureller Hinweise. Neben Nora Tschirner und Alexander Kluge schaffen es auch Jürgen Vogel und Ryan Gosling auf die Liste der Kapitelüberschriften. Ohne Google geht wenig, sogar Dechiffrierungs-Fans kommen an ihre Grenzen. Eltern werden vielleicht herausfinden müssen, wer Tony Stark noch einmal war: das Alter Ego des Superhelden Iron Man aus den Marvel-Comics und Kino-Blockbustern. Junge Leser müssen ergründen, wer Sigourney Weaver ist: einer der ersten weiblichen Stars des Actionfilms.
Auch Leo und sein Vater haben eine gemeinsame Film- und Fernsehgeschichte. Motivisch setzt Tobias Wagner ihrer Entfremdung durch die Demenz die Strategie entgegen, das Leben, das sein Vater gerade vergisst, in Bildern festzuhalten. Auch das Spiel mit der Wirklichkeit, die Verfremdung durch den Blick der Kamera bekommen zusätzliche Bedeutung: Es sind Versuche, sich die eigene Geschichte anzueignen.
„Von einem Menschen“, hat Leos Mutter kurz vor ihrem Tod gesagt, „bleibt nur wenig. Keine Gedanken. Keine Gefühle. Die anderen können dir nicht in den Kopf gucken. Einzig deine Taten können erinnert werden. ‚Mach dir schlaue Gedanken, aber du musst sie sichtbar machen.‘“ „Death in Brachstedt“ versucht genau das. Der Autor riskiert viel, nicht alles geht auf, aber es ist ein kühner Anfang.
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