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Für alle, die von „The White Lotus“ nicht genug bekommen
Anspruchsvolle Wälzer mit 1000 Seiten aufwärts bezeichnet man im Literaturbetrieb gelegentlich als „Blauwale“. Ein Blauwal ist in der Regel eine kaum zu bewältigende Zumutung für den Leser, siehe „Ulysses“ von James Joyce (1050 Seiten), Thomas Manns „Zauberberg“ (1008 Seiten) oder „Krieg und Frieden“ von Lew Tolstoi (je nach Ausgabe bis zu 2098 Seiten). Dermaßen viele Seiten in die Welt zu schmeißen, ist nicht gerade ein Zeichen von schriftstellerischer Demut. Dieses literarische Manspreading, das Sichbreitmachen in den Bücherregalen, ist nicht mehr besonders zeitgemäß. Und in der Gegenwart auch nicht mehr preisverdächtig, siehe „Die Projektoren“ von Clemens Meyer (1042 Seiten). Der letztjährige Deutsche Buchpreis an Martina Hefter für „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ (224 Seiten) spricht eine deutliche Sprache: Buchstabeninkontinenz als Manifestation eines großen Geistes, das war mal.
Der kanadische Autor Paul Ruban ist ein moderner Schriftsteller. Sein hervorragendes Romandebüt „Der Duft des Wals“ hat schlanke, wohldurchdachte, präzise satirisch gearbeitete 220 Seiten. In bester Kafka-Tradition geht es schlecht los und wird dann immer schlimmer: Schon nach ein paar Seiten explodiert ein Blauwal. Und dann geht alles herrlich unterhaltsam immer noch weiter bergab.
Aus sechs Ich-Perspektiven erlebt der Leser die letzten Tage des altehrwürdigen, in die Jahre gekommenen Luxushotels „Nuevo Gran Palacio“, das sich in einem nicht näher genannten Land in Mittelamerika befindet, vielleicht Mexiko oder Guatemala.
Alle erholungsbedürftigen Gäste tragen Nasenklammern, so sehr stinkt es
Die Eheleute Hugo und Judith wollen im Urlaub einen letzten Versuch unternehmen, ihre scheiternde Ehe zu retten. So viele Paartherapien haben sie schon hinter sich. Ohne es zu wollen, stellt der Leser sie sich als kanadische Versionen von Marie Nasemann und Sebastian Tigges vor, aber viel sympathischer, voll von schöner, ehrlicher gegenseitiger Verachtung. Hugo über Judith: „Seit einem Jahr lähmt sie die Öko-Angst. (…) Als ich die Idee für einen Urlaub im Süden geäußert habe, ist Juju an die Decke gegangen. (…) Aber am Ende hat sie kapituliert. Und hier sind wir jetzt.“ Judith über Hugo: „Er bietet mir nie das letzte Stück Kuchen an. Sein Musikgeschmack beschränkt sich auf die Top 40. Und wenn wir einen Abend im Freundeskreis verbringen, hängt er sich jedes Mal seine blöde Bronzemedaille um den Hals. So was von peinlich.“
Hugo hat vor langer Zeit mal olympische Bronze im Eiskunstlauf gewonnen. Heute ist seine Frau von seiner Zierlichkeit und Geschmeidigkeit zunehmend angewidert. Nach der Geburt der gemeinsamen Tochter Ava hat er eine Vasektomie vornehmen lassen, ohne davor seiner Frau Bescheid zu sagen (sie hasst ihn dafür). Die Tochter Ava ist eine wunderbare Figur, ein talentiertes Mädchen, das die Streitszenen ihrer Eltern auf einer Zaubertafel zeichnet, sich in den örtlichen, jugendlichen Zigarettenhändler verguckt und unerschrocken in den Kadaver eines riesigen Blauwals klettert, den es direkt vor dem Hotel an den Strand gespült hat. Sie zeichnet in seinem Inneren sein Herz, bis die Eltern sie panisch herausziehen.
In der Nacht blähen die Verwesungsgase den Wal so sehr auf, dass er schließlich explodiert, und einen nicht zu ignorierenden Gestank über dem Hotel und der ganzen Landschaft verteilt, der so durchdringend ist, dass alle erholungsbedürftigen Gäste gezwungen sind, rund um die Uhr Nasenklammern zu tragen. Der Concierge Waldemar arbeitet mit immer verzweifelteren Maßnahmen gegen den Geruch an, er geht sogar so weit, per Flugdrohne literweise Chanel Nº 5 zu versprühen. Nur selten unterbricht er seinen Kampf gegen den Gestank, um dem narkoleptischen Zimmermädchen Belén Avancen zu machen.
Der Duft des Wals legt sich über jeden Versuch, Ruhe oder Intimität zu finden, gegen das Verwelken einer Liebe anzuküssen, Gespenster der Vergangenheit loszuwerden. Die Stewardess Céleste hat Hugo, Judith und Ava auf dem Flug begleitet und versucht sich ebenfalls an Erholung, aber in den Schwaden des hoteleigenen Dampfbads lauert der Geist einer alten Frau, die auf einem früheren Flug unter ihrer Obhut im Sitz gestorben ist und Céleste seitdem heimsucht. Um ihre Schuld zu lindern, peitscht sie sich im Hotelzimmer mit einem Ledergurt aus und erklimmt auf Knien einen Maya-Tempel, ohne Erfolg.
Paul Ruban, der auch als Drehbuchautor arbeitet, beherzigt in jeder seiner Szenen die gute Filmregel: so spät wie möglich rein ins Geschehen und so früh wie möglich wieder raus. So ist ein kondensiertes Meisterwerk entstanden, das es qualitativ ohne Weiteres mit der Serie „The White Lotus“ aufnehmen kann. Die in allen Feuilletons rauf und runter gelobte dritte Staffel hatte acht Folgen mit ungefähr je einer Stunde, hätte aber sicher mindestens genauso gut als einzelner Film mit 120 Minuten Länge funktioniert. Auch im Bereich des filmischen Erzählens ist eine gewisse Blauwalisierung festzustellen.
Das multiperspektivische Erzählen beherrscht Ruban auch auf knappem Raum meisterlich. Sechs Ich-Figuren auf 220 Seiten wirklich zum Leben zu erwecken, muss man draufhaben. Hat er ausdrücklich. Zusammen mit Ava sitzt der Leser am Schluss traurig im Rettungsboot, nachdem alles so richtig den Bach beziehungsweise den Hang heruntergegangen ist (mehr gespoilert wird nicht), und trauert dem Urlaubsflirt hinterher, dem kleinen Zigarettenhändler: „Ich werde ihn wohl nie wiedersehen und kriege einen walgroßen Kloß im Hals. Ich weiß noch nicht mal, wie er heißt. (…) Er hätte mein erster Kuss sein sollen – nicht nur eine lauwarme Erinnerung.“
Der Autor Paul Ruban liebt seine Figuren, statt sie zu hassen. Und auch seine Leser liebt er
Avas liebevoller Blick auf das Wimmelbild des Verfalls um sie herum macht aus dem Roman mehr als nur eine, wie man immer so nervig sagt, „bissige Satire“. Während ihr Vater jammert: „Der Weltuntergang naht“, und ihre Mutter lamentiert: „Das übersteigt den Verstand. Noch zwei weitere Tage in diesem Elend“, staunt Ava über „Alkohol, den Treibstoff der Großen“. Und malt ihre Eltern, wie sie am Frühstücksbuffet im Kampf um ein Stück Melone handgreiflich werden, auf ihrer Zaubertafel. Mit einer Zugewandtheit und Hoffnung ihren Modellen gegenüber, die handelsübliche Satiren sonst verweigern.
Der Autor Paul Ruban liebt seine Figuren, statt sie zu hassen. Das macht sein Buch so grandios. Und auch seine Leser liebt er, statt sie zu hassen. Deswegen hat er ihnen einen 1000-Seiten-Blauwal erspart. Nicht zuletzt den Rezensenten erfüllt das mit Dankbarkeit.