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Kein Geld macht auch nicht glücklich
Im Grunde macht die Entführung von Carl Fletcher auch keinen großen Unterschied mehr. Die Fabrik der Fletchers ist so oder so dem Untergang geweiht: Styropor und Kunststoffverpackungen, das ist alles andere als nachhaltig oder zukunftsträchtig. Trotzdem, als Carl Fletcher, einer der reichsten Bewohner eines Vororts in Long Island, am 12. März 1980 vor seiner eigenen Haustür entführt wird, ist das für seine Familie erst einmal eine Katastrophe. Es folgen Erpresseranrufe, eine Geldübergabe am Flughafen, zu der die schwangere Ehefrau fahren muss. Nach 42 Seiten aber ist Carl Fletcher wieder frei und die eigentliche Katastrophe sowie die eigentliche Geschichte beginnt: die des finanziellen Abstiegs der Familie.
„Die Fletchers von Long Island“ heißt der rund 600 Seiten schwere Roman, den Taffy Brodesser-Akner geschrieben und Sophie Zeitz ins Deutsche übersetzt hat: ein herrlich saftiges Familien-Epos, sehr jüdisch-amerikanisch und dementsprechend überbordend an Details, Fabulierlust und exzentrischen Figuren. Ein Roman wie ein mehr als reich gedeckter Tisch.
„Die Entführung war zum Symbol für die Stärke der Familie geworden“, heißt es im ersten Kapitel. „Aber das Problem war, dass sie keinen Moment innehielten, um darüber nachzudenken, was der Rest von uns wusste, nämlich, dass nicht sie die Bedingungen für Sicherheit und Glück aufstellten – dass Sicherheit und Glück möglicherweise nicht per Vorauszahlung funktionierten. Je mehr du dich darauf verlässt, dass es sich selbst finanziert, desto unsicherer und tückischer sind seine Erträge“, mit diesen Worten zeichnet die Autorin gewissermaßen den dunklen Schatten der Ereignisse vor. „Aber was willst du machen?“, ergänzt sie, „so sind die Reichen.“
Was passiert mit einer vom Holocaust traumatisierten Familie, wenn noch ein Trauma dazukommt?
Taffy Brodesser-Akner ist Journalistin des New York Times Magazine, Romanautorin und Jüdin. Zuletzt schrieb sie eine berührende Geschichte über Jehuda Lindenblatt, einen Überlebenden des Holocaust, in der sie auch ihre eigene Biografie reflektierte. Mit dem Holocaust habe sie sich eigentlich nicht mehr beschäftigen wollen, schreibt sie zu Beginn der Reportage, dies sei eine Ausnahme. Viel zu viel Raum habe das Thema in ihrer Jugend in Brooklyn eingenommen als das unausweichliche, allem zugrunde liegende Trauma jeder jüdischen Familie. „Der Holocaust war das Wasser, in dem wir schwammen, unsichtbar, aber wir waren klatschnass“, schreibt sie.
Vielleicht ist dieser Überdruss auch einer der Gründe, warum sie lieber heitere Satiren über jüdische Familien schreibt. „Fleishman steckt in Schwierigkeiten“, ihr Roman von 2019 über einen Vater in Nöten, wurde ein Bestseller in den USA und als Serie mit Jesse Eisenberg verfilmt. Die „Fletchers von Long Island“ nehmen es in ihrer Dysfunktionalität jetzt locker mit Figuren von Yasmina Reza auf und sind ähnlich verstrahlt, aber deutlich weniger intrigant als die Roys aus der Serie „Succession“. Obwohl es auch bei den Fletchers um den Fortbestand des Familienunternehmens und somit um alles geht.
An der Spitze des Clans stehen natürlich die Alten, Phyllis und Zelig. „Zelig Fletcher war 1942 als blinder Passagier im untersten Deck eines Ozeandampfers von Polen nach Amerika gekommen“ – und er hat das Geheimnis für die Polymer-Formel für einen Verpackungswerkstoff von einem sterbenden, jüdischen Chemie-Studenten zugeflüstert bekommen, so der tonnenschwere Familien-Mythos. Sein Sohn Carl, der später Entführte, wird jung Zeligs Nachfolge der Firma „Flechter – Consolidated Packing Solutions“ auf Long Island antreten, die Jüdin Ruth heiraten und drei Kinder in die Welt setzen: Bernard, genannt Beamer, Nathan und Jenny, die erst nach seiner Entführung 1980 geboren wird. Um diese drei soll es vor allem gehen, genauer gesagt: um ihre ganz individuellen Verkorkstheiten. „Sie gaben ihr Geld aus wie alle amerikanischen Kinder der dritten Generation: schnell und ohne groß darüber nachzudenken“, das ist der Sound, mit dem wir uns ihnen nähern.
Taffy Brodesser-Akner segelt mit lakonischer Distanz zu ihren Figuren, aber nie ohne Liebe und Mitgefühl, mitten hinein ins Auge des Sturms, in die Pleite des alle ernährenden Familienunternehmens. Dort tosen dann unerhörte Fragen, die sich um das Thema des Traumas drehen: Was passiert mit einer vom Holocaust traumatisierten jüdischen Familie, wenn auf dieses Trauma noch ein anderes Trauma obendrauf kommt? Und wie wirkt es sich auf die Dynamik aus, wenn man sehr viel Geld in diese Gleichung wirft, dieses dann aber wieder herausnimmt? Kurz: Wie ergeht es mehrfach traumatisierten, verwöhnten, reichen erwachsenen Kindern, wenn Papa plötzlich nichts mehr überweisen kann?
„Die erste Generation baut das Haus, die zweite lebt darin, die dritte brennt es ab“
Nicht sehr gut, ganz offensichtlich. Sohn Beamer lebt in Hollywood und versucht, an seine frühen Erfolge als Autor eines Action-Drehbuchs über eine Entführung anzuknüpfen. Um sein Scheitern (oder seine Traumatisierung?) zu vergessen, lässt er sich von diversen Frauen auspeitschen und quälen. Seine schöne Ehefrau, eine etwas geschichtsvergessene Nichtjüdin, trifft bei den Kindern die eher unglückliche Namenswahl Liesl und Hans – ewiges Streitpotenzial mit Mutter Ruth.
Der andere Fletcher-Sohn, Nathan, ist sensitiver Sicherheitsfanatiker mit Herzrasen, der Anwalt für etwas Langweilig-Stabiles – für Bodenrecht. „Konkursrecht schied aus, weil er die Nöte der Menschen, die in Konkurs gingen, nicht aushielt. Strafrecht schied aus, weil er nichts mit Straftätern zu tun haben wollte. Familienrecht kam vielleicht infrage, aber er litt unter dem vielen Streiten“ – deshalb.
Jenny, die jüngste, verschenkt große Teile ihres Geldes und engagiert sich in einer studentischen Gewerkschaft, als sie erfährt, dass es so was überhaupt gibt. Ihr Versuch, die mit dem Reichtum einhergehenden Privilegien und die mögliche damit verbundene Verantwortung kritisch zu reflektieren und ein bedürfnisarmes Leben zu führen, scheitert an ihrer Naivität. Geld ist immer nur den Leuten egal, die genug haben. „Du arbeitest, aber du verdienst nicht dein Geld. Dein Geld verdienen andere für dich. Nämlich wir. Wir haben eure Fabrik betrieben“, wirft ihr ein Fabrikmitarbeiter vor.
Taffy Brodesser-Akners Roman ist also auch eine Geschichte über sozialen Aufstieg aus der Arbeiterklasse hin zu Reichtum. So etwas wie Verständnis der Kinder für eine vorausgehende Generation kann es vielleicht nur bedingt geben, für jene, die sich „abgerackert hat, damit wir so leben können, wie wir wollen“ – und dieses Wollen dann aus nicht mehr als Trips zur Domina (Beamer) und pseudosozialistischem Engagement (Jenny) besteht. All das vor dem Hintergrund, dass es sich hier um die Biografien von Menschen handelt, deren Vorfahren den Holocaust überlebt haben. Als existiere für diese junge Generation eine besonders große Verpflichtung, etwas Bedeutungsvolles aus ihrem amerikanischen, freien Leben zu machen. Dem Trauma aber, das weiß die Autorin, das spüren auch die Fletchers, dem entkommt man am Ende nicht. Erst recht nicht, wenn man so tut, als gäbe es keins.
„Du kennst doch den Spruch“, sagt Nathans Ehefrau an einer Stelle im Buch: „Die erste Generation baut das Haus, die zweite lebt darin, die dritte brennt es ab.“ Selten macht es so viel Spaß, dem Brennen zuzuschauen wie in diesem Roman über die Familie Fletcher von Long Island.