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Eine echte literarische Entdeckung
Auf den ersten Blick scheint dieses Dorf völlig aus der Zeit gefallen. Ein paar Häuser, eine Baracke, ein Friedhof, eine Kirche – mehr ist da nicht. Ringsum die sanfte Hügellandschaft der Beskiden im Süden Polens, die wirkt, „als endete hinter dem Horizont die Welt“. Für die meisten Dörfler endet ihre Welt dort tatsächlich, und es ist eine unsanfte Welt. Sogar die Jahreszeiten sind unsanft. Kein frischer Frühling, kein milder Herbst. Stattdessen nur harsche Winter mit viel Schnee („Die Leute versinken bis zur Hüfte darin“), während der Raureif Muster an die Fenster malt. Und die Sommer sind „so heiß, wenn man ein Streichholz warf, dann stand gleich alles in Flammen“.
In ihren Debüt-Erzählungen „Die weißen Nächte“ – in der einfühlsamen und geschmeidigen Übersetzung Renate Schmidgalls – entwirft die polnische Lyrikerin Urszula Honek, die selbst aus einem Beskiden-Dorf stammt, eine vormoderne ländliche Hinterwelt, in der der Milchmann noch mit dem Pferdefuhrwerk bei den Bauern die Kannen einsammelt, die Mütter den Töchtern die langen Zöpfe flechten und die Väter wie seit jeher die Söhne prügeln.
Diese dreizehn Geschichten sind in Personal und Motivik sorgsam miteinander vernetzt, bilden einen Episodenroman aus lauter Erzählfragmenten und steigen tief in die archaischen Schichten dieser Dorfwelt hinab. Die Menschen taumeln wie benommen durchs Leben, ungewiss, ob sie „noch auf der Seite des Schlafs sind oder schon zurück“. Sie sind schwermütige Träumer, haltlose Säufer, todessüchtige Verrückte, potenzielle Selbstmörder. Die einen wählen den Balken und den Strick, die anderen „tun es eher auf Raten, nach und nach. Das Leid verzehrt sie nicht in einem Augenblick, sondern das ganze Leben lang ein bisschen“.
Befinden wir uns in einer mythischen oder in der historischen Zeit? In beiden zugleich?
Die Mentalität der Dörfler ist von magischen und mythischen Vorstellungen geprägt – ein archaisches Dorfwissen, das von den Großmüttern an die Enkelkinder weitergegeben wird. Demnach sind im Dorf die Toten allgegenwärtig wie Nachbarn. Die Dorfhunde Pimpek, Burek und Groszek können sie wittern, mit ihrem Gekläff kündigen sie die Geister an. Die Toten mischen sich unter die Lebenden. Man muss sorgsam mit ihnen umgehen und darf sie nicht provozieren, warnen die Dorf-Alten, „sonst folgen sie einem Schritt für Schritt wie Hunde“ oder kommen einen „womöglich holen, dann gibt es kein Zurück“. Die Lebenden „halten den Tod an der Hand“, spazieren mit ihm „Arm in Arm“ und üben unentwegt ihren eigenen Tod, auf unterschiedliche Art.
Hanna, die älteste Tochter der Koniecznys, hat sich „von Kind auf im Grab gesehen, nur den Sarg habe ich mit der Zeit vergrößert“. Später steigt sie in den Fluss, wo er am tiefsten ist, die Taschen voll schwerer Steine. Fortan grollt sie dem Mann, der sie herausgezogen hat – Andrzej, dem Holzfäller, der auch selbst immer mal wieder die Lust am Leben verliert. Des Öfteren sucht er sich mit Tabletten umzubringen, ehe er am Ende einen Strick aus der Tasche zieht und ihn auf einen Ast des höchsten Baums wirft. Hannas jüngere Schwester, die verrückte Zosia, sagt: „Das Leben ist mir nicht lieb.“ Sie sucht überall nach ihrem toten Verlobten und übt gestikulierend schon mal das Sich-Aufhängen. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und bindet einen unsichtbaren Knoten über dem Kopf, „damit der Strick hält, wenn ich es will“.
Doch Urszula Honek belässt es nicht bei diesen grausigen Episoden aus einer stillstehenden Mythen- und Märchen-Zeit, wozu auch uralter Judenhass zählt mit seinen eingefressenen Stereotypen über „krummbeinige Rothaarige mit prallen Geldsäcken“, die „in die Ferien gefahren sind, die Fische von unten fangen“. Die Autorin verunsichert ihre Leser auch, indem sie irritierende Ungleichzeitigkeiten einstreut. Nachts leuchtet in den Fenstern der Häuser das blaue Licht der Fernseher auf, und in der Bar Finesse nahe dem Friedhofshügel wärmt die Barfrau gefrorene Käse-Baguettes in der Mikrowelle auf und schenkt Coca-Cola aus. Befinden wir uns in einer mythischen oder in der historischen Zeit? Oder eher in beiden Zeiten zugleich? Solche Uneindeutigkeit macht den besonderen literarischen Reiz dieser Texte aus.
Jedenfalls hat man als Leser dieser Erzählungen nichts zu lachen. Schlimme Dorfgeschichten bilden in Nachkriegseuropa ein verbreitetes literarisches Genre. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Anti-Idyllen aus abgehängten Hinterwelten Europas sind – insofern das finstere Gegenprogramm zum gemütvollen Winkel-Glück treuherziger idyllischer Vorkriegsgeschichten. Nur der jeweilige politische Kontext ist unterschiedlich. In „Patria“ von Fernando Aramburu wird ein baskisches Dorf von ETA-Terror verwüstet. Péter Nádas erzählt „Schauergeschichten“ über ein wüstes ungarisches Dorf unter kommunistischer Gewaltherrschaft. Und in der österreichischen Nachkriegsliteratur steht das dämonische Dorf als zentrale Metapher für alles, was die Autoren an ihrem Land als hassenswert erachten – Österreich als hinterwäldlerischer Nicht-Ort voll verstockter Eingeborener und verschwiegener Verbrechen. Die Dorf-Metapher allegorisiert da die Zweite Republik als solche in ihrem ganzen Provinzialismus.
Urszula Honeks Geschichten sind in ihrem magischen Realismus etwas anders aromatisiert. Sie sind nicht von zornigem Abscheu, sondern von schwermütiger Anhänglichkeit imprägniert. Die Liebe zu dieser südpolnischen Landschaft hat schon Honeks Landsmann Andrzej Stasiuk vor einem Vierteljahrhundert zu seinen wunderbaren Impressionen über „Die Welt hinter Dukla“ inspiriert. Nur folgerichtig, dass Stasiuks Ehefrau und Verlegerin Monika Sznajderman nun auch Honeks Beskiden-Erzählungen herausgebracht hat.