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Wie man für junge Menschen übers Sterben schreibt
Nils Mohl gehört zu den wichtigsten Stimmen der deutschsprachigen Jugendliteratur, 2012 bekam er den Deutschen Jugendliteraturpreis für „Es war einmal Indianerland“, 2024 den James-Krüss-Preis für internationale Kinder- und Jugendliteratur. Auf der Leipziger Buchmesse hat er seinen neuen Roman „Engel der letzten Nacht“ vorgestellt: Kester, 17, hat gerade sein Abitur als Jahrgangsbester gemacht, die Welt steht ihm offen. Er aber hat vor, sich das Leben zu nehmen. Vorher will er eine letzte große, aufregende Nacht erleben. Hamburger Dom, Hafen, Reeperbahn, der Bunker in der Feldstraße werden zu Orten der Freiheit, des Verbotenen, der Begegnung mit anderen Nachtgestalten und mit sich selbst. Nils Mohl, hochgewachsen, rote Converse, Schiebermütze, betritt den Frühstücksraum des traditionsreichen Park Hotel von Leipzig.
SZ: Herr Mohl, in Ihren Büchern spielen oft Übergänge eine wichtige Rolle, zum Beispiel der von der Jugend zum Erwachsenenalter. Aber in „Engel der letzten Nacht“ braucht es keine 14 Seiten, bis Ihr Ich-Erzähler Kester absichtlich ein Auto zu Schrott fährt. Das ist ein harter Einstieg. Gehört das Thema Suizid in die Jugendliteratur?
Nils Mohl: Es gehört zum Leben, deshalb gehört es zur Literatur. Man befindet sich damit ja auch in feiner Gesellschaft. Ich habe in der Schule Goethes „Werther“, den „Faust“, „Romeo und Julia“ und „Frühlings Erwachen“ gelesen. Ohne Triggerwarnung. Lauter Suizid-Geschichten. Dass das Thema für Jugendliche von Bedeutung ist, steht außer Frage: Die häufigste Todesursache bei Menschen unter 20 ist die Selbsttötung. Und ich bin mir ziemlich sicher: Viele haben das schon mal im Kopf durchgespielt. So wie man die Fragen durchspielt: Was wäre, wenn morgen die Eltern tot sind, wenn mein bester Freund stirbt, wenn bestimmte Menschen nicht mehr da sind? Dazu gehört auch der Gedanke, was ist, wenn ich nicht mehr da bin. Für mich als Romanautor ist das Grund genug, mich für das Thema zu interessieren.
Anderen geht es offensichtlich ähnlich. Wer sich durch die Kinder- und Jugendliteratur liest, merkt schnell: Da wird unheimlich viel gestorben. Der Tod scheint ein geeigneter Ausgangspunkt fürs Erzählen zu sein. Warum ist das so?
Man schreibt Geschichten auch, um eine gewisse Wirkung zu erzielen, und die maximale Wirkung geht von der Endlichkeit aus. Sich einfach dieses Themas zu bedienen, um sich interessant zu machen, finde ich allerdings zu wenig.
Anderen geht es offensichtlich ähnlich. Wer sich durch die Kinder- und Jugendliteratur liest, merkt schnell: Da wird unheimlich viel gestorben. Der Tod scheint ein geeigneter Ausgangspunkt fürs Erzählen zu sein. Warum ist das so?
Ich hoffe ja, dass mein Roman wie das Nachtleben ist, in dem er spielt: bunt, wild, aufregend und voller Überraschungen. Wer das Buch liest, um sich mal so richtig schön runterziehen zu lassen, hat schlechte Karten. Das geht mit zehn Minuten Social Media oder einer Viertelstunde Nachrichten deutlich besser. Ganz unabhängig davon: Was würde es denn helfen, Menschen in Watte zu packen? Das Tolle an Literatur ist doch, dass sie uns auf neue Gedanken bringt, oft auf bessere. Es soll sogar Leute geben, die meinen, sie macht uns ein wenig immun gegen das Übel da draußen.
Wie haben Sie angefangen, sich diesem Thema für Ihren Roman zu nähern?
Es gab ein Filmprojekt, bei dem es ums Nachtleben ging. Das war dankbar, denn das Nachtleben hat die Tendenz, unwirklich zu sein, und ich mag diese Schwellen: Was ist Wirklichkeit und was nicht?
Was hat Sie daran interessiert, einen Engel auftreten zu lassen?
Robbie Williams größter Hit heißt „Angels“. Die Serie „Engel auf Erden“ war ein großer Hit, als ich Kind war. Später hat „Himmel über Berlin“ von Wim Wenders großen Eindruck auf mich gemacht.
Den Engel im Film spielt Bruno Ganz, der Engel in Ihrem Roman heißt „Bruno“.
Ganz zufällig natürlich (lacht). An meinem Schlüsselbund befindet sich ein sogenannter Key-Angel meiner Bank. Man begegnet auf Schritt und Tritt Engelsdarstellungen, nicht nur auf Friedhöfen. Das finde ich schon mal spannend. Engel sind Teil der Popkultur und unseres Alltags.
Sind sie eine Art Metapher für den Wunsch nach Kontakt zu einer höheren Ordnung?
Oder einfach ein Bild für ein Ideal? Immerhin nennt man auch brave Kinder „Engel“. Ich habe keine abschließende Antwort, aber in meinem Roman geht es nicht zuletzt darum, dass jeder von uns das Zeug hat, im Leben anderer die Rolle des schützenden oder rettenden Engels zu spielen.
Für Ihre Hauptfigur Kester wird das entscheidend. Er könnte mit seinem Abi-Schnitt alles machen, doch er will die Zukunft nicht.
Na ja, er hatte den Luxus, mit der Schule in einem System zu sein, in dem er gut funktioniert. Er hat aber nicht darüber nachgedacht, dass dieses System ihn nicht ein Leben lang tragen wird. Und das wirft ihn aus der Bahn..
Im Laufe dieser letzten Nacht, von der wir nicht wissen, ob es wirklich die letzte werden wird, begegnet Kester nicht nur seinem Schutzengel, sondern unterschiedlichsten Nachtgestalten.
Die Figuren werden immer älter, sie betrachten die Welt anders als Kester. Und obwohl sie viel größere Probleme haben als er, sehen sie positiv aufs Leben. Dabei verhalten sie sich nicht korrekt, sie machen Fehler. Aber die letzte, Christina, die macht etwas richtig.
Sie holt Hilfe – doch da ist Kester schon wieder weg. Es bleibt offen, ob Kester sich tatsächlich das Leben nehmen wird.
Ist das so? Offen bleibt eigentlich nur, welches Ende man selbst favorisiert. Ich habe über viele Lesarten nachgedacht, bis hin zu der, dass die Figur des Kester gar nicht existiert, sondern ein Sinnbild dessen ist, was es bedeutet, wenn jemand mit dem Tod konfrontiert ist.
Warum sollten sich junge Menschen damit befassen?
Brozilla, ein befreundeter Graffiti-Künstler, hat das Cover-Motiv des Buchs gestaltet. In seinem Brotberuf arbeitet er oft mit suizidalen Jugendlichen. Er sagt ihnen, dass er seine Aufgabe darin sieht, Werbung fürs Leben zu machen. Besser könnte ich meinen Job als Geschichtenerzähler in diesem Fall auch nicht auf den Punkt bringen.
Fast alle Ihre Bücher handeln vom Jungsein und Erwachsenwerden – wie haben Sie selbst den Aufbruch ins Ungewisse erlebt?
Kurz nach dem Abi bin ich 20 geworden, ich war schulmüde, es war Zeit, dass etwas Neues beginnt, auch wenn ich keine genaue Vorstellung davon hatte, was das sein sollte. In dem Sommer habe ich außerdem in Tunesien einen Freund besucht. So wollte ich weiterleben: reisen, schreiben, studieren. Die Literatur war ein wichtiger Anker, aber ich hatte auch einen Ausbildungsplatz als Trainee bei Siemens. Es hätte also alles ganz anders kommen können.
Sie haben sich für den risikoreicheren Weg entschieden. Warum?
So denkt man ja nicht, wenn man jung ist. Mein Wunsch war, dazuzugehören: Schriftstellersein als Lebensform. Ich fand mein Leben total langweilig und dachte, dass man erst ein Leben führen muss, das einen berechtigt, darüber zu schreiben. Das ist natürlich völliger Quatsch. Aber wenn ich zurückdenke, war das Gefühl entscheidend, nicht zu genügen für das, was ich möchte.
Haben Sie sich deswegen für eine Konstruktion des Erzählens entschieden, die das Leben nicht erlaubt – nämlich mehrere Anläufe zu nehmen, verschiedene Fortsetzungen zu schreiben?
Wenn man eine Nacht mit vielen Begegnungen beschreibt, hat man das Problem, dass die Figuren, die einem ans Herz wachsen, schnell verschwinden müssen. Der kleine Trick hier ist, dass sie immer wieder auftreten dürfen. Das ist die praktische Antwort. Aber ich wollte auch verstehen, warum jemand in eine Lage wie Kester kommt. Wenn man anfangs vielleicht noch denkt: Was für ein Idiot, verwöhnt, mit Wohlstandsproblemen belastet, zeigt er sich am Ende als jemand sehr Sensibles, der es nicht ertragen kann, dass andere Menschen von der Welt gehen müssen. Dadurch ändert sich der Blick auf eine solche Tat.
Ihr Roman erlaubt aber viele Fragen, auch die, wie ernst es Kester mit seinem Suizid ist. Lässt sich die Geschichte als existenzielles Gedankenspiel lesen?
Mit 17 habe ich „Der Fremde“ von Albert Camus gelesen. Eine wichtige Denkfigur seiner existenziellen Philosophie ist, dass der größtmögliche Widerstand wäre, sich selbst das Ende zu setzen. Man tut es nicht, auch wenn das Leben mühsam ist, weil das die Revolte gegen die Götter wäre. Das beschäftigt mich bis heute, weil ich das nie verstanden habe. Ich wäre für die Zugabe und hätte gern noch ein zweites oder drittes Leben.
Wer schreibt oder liest, steigt in viele Leben ein. Sie sitzen mir mit Schiebermütze gegenüber, im Roman tritt ein Autor im gleichen Outfit auf, er gibt Workshops für Jugendliche, um sie zum Erzählen zu animieren – was hat es damit auf sich?
Warum tritt Alfred Hitchcock in seinen Filmen auf? Das Erzählen ist ein grandioses Spiel. Vielleicht das größte überhaupt. Es schafft Welt. Und wie bei jedem Spiel kann man sich darin prima verlieren, Neues ausprobieren, viel über sich und andere lernen. Ich finde, das ist schon eine ganze Menge. Die Figur des Autors ist außerdem ein Hinweis darauf, dass alles ausgedacht ist. Das ist mir wichtig.
Es legt noch eine weitere Lesart nahe, nämlich die, sich als Autorin oder Autor der eigenen Lebensgeschichte zu begreifen.
Das gefällt mir. Es ist gut, dass Kester losgeht, wenn auch vielleicht aus den falschen Gründen. Man braucht dann das Glück, den richtigen Leuten über den Weg zu laufen. Man braucht diese Engel da draußen. Aber sie laufen ja rum.