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Mit klarem Blick auf beide Seiten
Der Holocaustforscher Raul Hilberg wurde in einem SZ-Interview im Juli 1993 einmal gefragt, was man aus der Geschichte lernen könne. Hilbergs kurze Antwort war, man könne lernen „zuzuschauen“, also gleichgültig gegenüber dem Schicksal seiner Mitmenschen zu bleiben. Der 1954 in einem israelischen Kibbuz geborene Historiker Omer Bartov, wie Hilberg ein anerkannter Holocaustexperte, ist kein schweigsamer Zuschauer. Bartov ist vielmehr ein engagierter Geschichtswissenschaftler, der sich immer wieder in Debatten einmischt, mit deutlichen, teils kontroversen Positionen. Er steht weder der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung seines Heimatlandes gleichgültig gegenüber noch dem Schicksal seiner palästinensischen Nachbarn.
Zuletzt etwa scheute Bartov, der für seine Arbeiten vielfach ausgezeichnet wurde und nach akademischen Stationen in Harvard und Princeton seit dem Jahr 2000 die Professur für Holocaust and Genocide Studies an der renommierten Brown University in Providence innehat, sich nicht, das Vorgehen der Regierung Netanjahu im Gazastreifen als Genozid zu bezeichnen und dem israelischen Ministerpräsidenten eine Instrumentalisierung des Holocaust und seiner Opfer zu tagespolitischen Zwecken vorzuwerfen.
Einige autobiografische Bezüge in den Aufsätzen
Nach seiner mikrohistorischen Studie zur Geschichte der mörderischen Gewalt gegen die jüdische Gemeinschaft in der galizischen Kleinstadt Buczacz während des Holocaust, die 2018 auf Englisch und drei Jahre später auf Deutsch unter dem Titel „Anatomie eines Genozids“ (Jüdischer Verlag, Suhrkamp) erschien, legt Bartov nun sein neues Buch vor, dass den umkämpften Genozid-Begriff ebenfalls im Titel trägt. Es ist allerdings keine neue Monografie Bartovs, sondern vereinigt dreizehn ursprünglich englischsprachige Aufsatztexte, die zwischen 2009 und 2022 in Fachzeitschriften und Sammelbänden erschienen und für die deutsche Übersetzung teils aktualisiert und überarbeitet worden sind. Dennoch ließen sich zahlreiche Wiederholungen nicht vermeiden.
Der dennoch lesenswerten Aufsatzsammlung vorangestellt ist eine Einleitung sowie ein eigens für die deutsche Ausgabe verfasstes Vorwort, das auf die Entwicklungen seit dem 7. Oktober 2023 eingeht, da die englische Originalausgabe zwei Monate vor dem Angriff der Hamas auf Israel erschienen ist. Der Untertitel des Buches kündigt eine „Geschichte im Selbstzeugnis“ (im englischen Original heißt es treffender „First-person history in times of crisis“) an, und die ersten autobiografischen Bezüge, mit denen Bartov an verschiedenen Stellen des Buches argumentiert, finden sich bereits im Vorwort. Darin berichtet der seit 1989 an der US-Ostküste lebende Bartov von einem Besuch in Israel im Juni 2024, bei dem er eine vom Terror und Kriegsgeschehen zutiefst traumatisierte israelische Gesellschaft vorfand, die dem Leiden der Menschen in Gaza gleichgültig gegenüberstand. Als Historiker weiß er zwar, dass es für seine Beobachtungen Erklärungen gibt, die in der jahrzehntelangen gemeinsamen Gewaltgeschichte beider Völker liegen: „Trotzdem übertrafen die Tiefe und das Ausmaß des kollektiven jüdischen Schmerzes und der bewussten und offenkundigen Leugnung palästinensischen Leids alles, was ich bis dahin erlebt hatte.“
Es ist diese empathische Doppelperspektive, die Bartov konsequent einnimmt. So war die Staatsgründung Israels 1948 für die eine Seite die Verwirklichung eines Traumes und nach dem millionenfachen Morden durch die Deutschen und ihre Helfershelfer eine geradezu historische Notwendigkeit, für die andere Seite der Beginn eines Albtraumes mit 750 000 vertriebenen Menschen und der Ausgangspunkt eines bis heute schmerzlich empfundenen historischen Traumas. Bartov setzt sich mit seinem Verständnis für die legitimen Anliegen beider Konfliktparteien in polarisierten Zeiten bewusst zwischen alle Stühle und sieht auf beiden Seiten religiös-fundamentalistische Kräfte, die eine „Normalisierung durch Vernichtung erreichen wollen“.
Kritik an „deutschen Empfindlichkeiten“
Zugleich hat Bartov die deutschen Debatten der vergangenen achtzehn Monate intensiv verfolgt (er lernte 1979 am Goethe-Institut in Murnau für seine Doktorarbeit über Wehrmachtssoldaten Deutsch) und konstatiert, dass es hierzulande oft „mehr um deutsche Empfindlichkeiten und Wahrnehmungen“ zu gehen schien als um die Ereignisse im Nahen Osten. Kritik an der israelischen Regierung werde in Deutschland „immer wieder als antisemitisch dargestellt“. Auch Bartov selbst blieb als jüdischer Israeli, der für sein Land vier Jahre als Soldat und später auch als Reservist gekämpft hat, von dem paradoxen Vorwurf nicht verschont.
In seinem Aufsatzband gibt es stets wiederkehrende Motive, die für Bartov forschungsleitend wurden. So plädiert er für eine doppelte Perspektivverschiebung und einen in Teilen bereits vollzogenen Paradigmenwechsel in der Holocaustforschung: Zum einen müssen die Selbstzeugnisse einzelner Personen eine stärkere Berücksichtigung finden, weil aus ihnen wichtige Erkenntnisse hervorgehen können, die andere Quellen nicht liefern. Hier sind aber nicht nur die Berichte überlebender Verfolgter gemeint, sondern auch die Erinnerungen der Zuschauer, der bystander, der Nachbarn, die als Personengruppe lange übersehen wurden, aber wichtige Detailinformationen etwa über das Zusammenleben auf regionaler Ebene vor, während und nach dem Mordgeschehen geben können.
Der Holocaust als ein „ausgeprägt kommunaler Genozid“
Zum anderen dürften sich Forschung und Erinnerung nicht länger nur auf die großen Vernichtungslager fokussieren, sondern den Holocaust stärker als ein lokales Geschehen in Tausenden Dörfern und Kleinstädten in Osteuropa wahrnehmen, wo das Morden nicht anonymisiert ablief, sondern sich Täter und Opfer, aber auch die wenigen Retter oft kannten und manchmal jahrzehntelang nebeneinander gelebt hatten. Bartov schätzt, dass mehr als die Hälfte aller jüdischen Opfer nicht in eines der Vernichtungslager deportiert, sondern an ihrem Heimatort oder in dessen unmittelbarer Umgebung ermordet wurden. Aus seiner Sicht gilt es, diesen „sozialen Kontext“ des Holocaust als einen „ausgeprägt kommunalen Genozid“ noch höher zu gewichten. Hierin sieht er auch eine Gemeinsamkeit mit anderen Genoziden des 20. Jahrhunderts, etwa in Ruanda oder Bosnien. Auch hier wurden „durch Koexistenz geprägte Gemeinwesen“ auf lokaler Ebene zu „Stätten des Genozids“.
Bartovs Beschäftigung mit der Auslöschung kommunaler Gemeinschaften in Osteuropa im Holocaust führte ihn nach eigener Aussage dazu, sich auch mit der Auslöschung solcher Gemeinschaften in seinem eigenen Land auseinanderzusetzen. Als Kind hatte er in den 1960er-Jahren im Norden Tel Avivs selbst in den Ruinen einer ehemals palästinensischen Ortschaft gespielt, ohne dass jemals über ihre früheren Bewohner gesprochen wurde. Gut vierhundert Dörfer sind nach 1948 von ihren einstigen Bewohnern verlassen und von den Landkarten getilgt worden. In der doppelten Vertreibung, der jüdischen Bevölkerung aus Europa und der palästinensischen aus Israel, sieht Bartov die „eigentliche Ursache von allem“, und nur in der beiderseitigen Anerkennung des geschehenen Unrechts kann für ihn der Schlüssel einer gemeinsamen Zukunft liegen. Als Omer Bartov kürzlich, wie seinerzeit Raul Hilberg, in einem Zeitungsinterview gefragt wurde, was man aus der Geschichte lernen könne, antwortete er: „Wir können genauso mitschuldig sein wie die Menschen, die wir erforschen. Das kann uns lehren, in unserem moralischen Urteil demütig zu sein.“.