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In jede Wunde eine Tablette
„Die Konturen eines Raums konnten durch Routinen geschärft werden, stellte Laura fest.“ Das wirft uns Svealena Kutschke als ersten Satz vor die Füße, eine Geste wie: „Friss oder stirb.“ Lesen Sie noch mal: „Die Konturen eines Raums konnten durch Routinen geschärft werden.“ Eine erste Prüfung, ein Test an der Eingangstür, bevor man eintreten darf. Entweder nimmt man sich die Zeit, sich mit den Worten zu beschäftigen, innezuhalten, nachzuprüfen. Oder man lässt es bleiben. Dann kann man direkt auf dem Absatz kehrtmachen. Und zuklappen.
Hat man die Schwelle überquert, gelangt man ins Haus. Das Gerüst von „Gespensterfische“, dem fünften Roman von Kutschke. Die Jannsen-Klinik. Eine fiktive psychiatrische Einrichtung in Lübeck. Deren Wände sind das verbindende Element zwischen den zwölf Hauptfiguren, die man in verschiedenen Jahrzehnten zwischen den 1920er-Jahren und den 2020ern erlebt. Kapitelweise springt man lesend zwischen Figuren und Zeit hin und her. Man kann aus der Puste kommen.
Laura, mit der das Buch beginnt, in den 1990er-Jahren, ist Patientin der Jannsen-Klinik. Wahnhaft denkt sie über Authentizität nach, ein Modewort, eine Eigenschaft, die man erfolgreichen Promis andichtet. Für Laura ist Realität nichts, in dem sich Menschen bewegen, sondern eine „Vereinbarung“ zwischen den Menschen. Ein bekannter philosophischer Gedanke, den Kutschke hier mit ihrer Figur verbindet: die Wirklichkeit als soziale Konstruktion. Wer sich diesen Konstruktionen entzieht, wer den Vertrag der Normen nicht mitträgt, wird gesellschaftlich an den Rand gedrängt. An Orte wie eine Psychiatrie, wie die Jannsen-Klinik. Laura beginnt, Gespräche aufzuzeichnen und auszuwerten, danach, wie authentisch sie sind. Und verdächtigt am Ende alle, nur „Theater zu spielen“, wie es Erving Goffman sagen würde.
Andere Figuren des Romans werden wegen ihrer Erscheinung oder ihrer Sexualität ausgegrenzt, wie Olga Rehfeld, die Laura als alte Frau kennenlernt, die der Roman später aber auch in jungen Jahren beschreibt. Sie ist lesbisch und entspricht damit als junge Frau in den 1930er-Jahren nicht der verordneten Norm. Man verabreicht ihr Medikamente mit schlimmen Neben- und Nachwirkungen, die sie nur weiter an die Klinik fesseln.
Dann gibt es da noch den neurotischen, emotional stumpfen Arzt Fellner und dessen Eltern, die alles sammelnde Pflegerin Eva Holm und deren Tochter und einige mehr. Ein Organigramm der Figuren auf der Vorschlagseite würde man sich wünschen. Oder zumindest eine Dramatis Personae, wie bei einem Theaterstück. Etwas, das Svealena Kutschke, die als Dramatikerin zuletzt beim Heidelberger Stückemarkt 2023 für den „Autor*innenpreis“ nominiert war, nicht fremd sein dürfte.
Ähnlich der Wohnung, die Eva Holm mit Kram vollstopft, wirkt auch „Gespensterfische“ überfüllt mit Motiven. Es geht um den Umgang mit psychisch Erkrankten, den Versuch, Worte für Depressionen und Angststörungen zu finden. Und um finstere Kapitel der deutschen Geschichte und was davon übrig bleibt: „Es war ja zutreffend, dass die Erinnerung nicht zuverlässig war, (...) sich im Gegenteil ständig selbst überschrieb. Wie konnte der Kern des Selbst also jemals mehr sein als eine Annahme?“ Den Kern der Figuren selbst kann man oft nicht recht greifen, so deutlich wird dem Leser gemacht, wie konstruiert deren Erinnerung, deren Wahrnehmung ist.
Laura, die man erst im Nachhinein als die wirklich zentrale Figur des Romans begreift, forscht deshalb nach. In den Erinnerungen der anderen. Sie geht dem Schicksal der alten Rehfeld auf die Spur und landet bei Thorsten Fellner und dessen Eltern. Die haben seit Anfang der 1940er ein dunkles Geheimnis. Fellners Vater arbeitete in einer leitenden Position in der Klinik, die Mutter als Pflegerin.
Die Schuld, die Traumata werden weitervererbt, da helfen keine Medikamente
Kutschke widmet sich hier, wie in ihrem erfolgreichen Vorgängerroman „Gewittertiere“ von 2021, einem Stück deutscher Geschichte. Da ging es um den Schock einer ostdeutschen Kleinstadt-Familie nach dem Mauerfall. Hier nun also um Nazi-Verbrechen, wie die Deutschen damit umgingen und welche Nachwirkungen es in darauffolgenden Generationen gibt. Während Vater Fellner noch im Sommerurlaub der 1960er-Jahre ständig von alten Zeiten spricht und offensichtliche Lücken dabei lässt, ist die Mutter besessen von den Entnazifizierungsprozessen, die sie als übertrieben kommentiert: „Unschuld liegt doch immer im Auge des Betrachters.“ Und die Schuld, das Trauma der Eltern werden an den Sohn Thorsten vererbt – die psychoanalytische Idee der transgenerationellen Weitergabe.
Ebender Thorsten Fellner ist später wiederum überzeugter Verhaltenstherapeut. Es steht also für die psychologische Schule, die den Fokus mehr auf die Lösung als die Ursachen seelischer Probleme legt. Er tritt als Arzt auf, der sich René Polleschs Satz „In jede Wunde eine Tablette“, den Kutschke hier zitiert, zum Credo macht. Desinteressiert verschreibt er Medikamente, um Patienten ruhigzustellen. Am Ende ist es dann ein junger Anhänger der Psychoanalyse, der ihm Fahrlässigkeit vorwirft. Mit dem Nachdenken über deutsche Geschichte ist in „Gespensterfische“ also die Kritik am Umgang mit psychisch Erkrankten bis heute verbunden – gerade in stationären Kliniken.“
Der Unübersichtlichkeit vieler großer Themen in einer komplizierten Erzählkonstruktion trotzt Kutschke mit der besonderen Melodie ihrer poetischen Sprache. Sie verführt den Leser, bringt ihn in die Lage, ihr Buch durchdringen zu wollen. Manche Sätze wirken fast, als sei ihre Schönheit in der Prosa eingeengt. Man würde sich, wie in einem Lyrikband, wünschen, dass die Nachdenkpausen im Weißraum auf der Seite Platz fänden: „Sie hatten sich verliebt, wie Menschen sich eben verlieben. Mit zarter Euphorie, anrührender Dümmlichkeit, gemeinsamer Mythosbildung.“ Sätze, die man sich gerne ins Gedächtnis tätowieren würde, um sie, wie Rehfeld, an der richtigen Stelle zitieren zu können. Rehfeld und ihre Freundin Noll, beide jahrzehntelang in der Klinik, unterhalten sich meistens in Literatur-Zitaten. Da stellt sich wieder die Authentizitätsfrage: Ist es echt, wenn es zitiert ist?
Manchmal streift Kutschke gefährlich nah am Kitsch vorbei, wenn Wirklichkeit „perforiert“ wird, wenn Wintermorgende „leicht aufdringliche Schönheit“ besitzen, wenn sich jemand auf ein Samtsofa „gießt“, statt sich einfach zu setzen.
Das Buch will auch zeigen, wie feministische und weibliche Perspektiven noch immer unterrepräsentiert sind. Und dreht die Verhältnisse um. Zwar haben auch die männlichen Figuren ihre Geschichten, der Pfleger Lukas gibt seine Zukunft auf, um seine Mutter zu pflegen, Thorsten Fellner leidet unter der Schuld der Eltern. Aber Laura interessiert sich bei ihren Nachforschungen nicht für sie. Als sie Fellner interviewt, lässt sie ihn kaum zu Wort kommen, lässt ihn sein Gewissen nicht reinigen. Er, der seinen Patienten nie zugehört, sondern stumpf Tabletten verordnet hat, braucht jemanden, dem er sich öffnen kann. Laura lässt es nicht zu.
Vieles an diesem Buch fällt einem, in guter psychoanalytischer Manier, erst im Nachhinein auf. Nicht stringent hat man sich durch die Geschichten bewegt, man hat sich ein Bild zusammengepuzzelt aus diesem Kaleidoskop der Perspektiven. Ein Netz aus Figuren und Handlungssträngen zusammengefügt. Leseroutinen sind durch die episodische Form durchbrochen worden. Kein Wunder, dass die Konturen nicht ganz scharf sind.