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Triggeralarm!
„Twelve Post-War Tales“ lautet der englische Titel einer Sammlung von Erzählungen des Schriftstellers Graham Swift, den sein deutscher Verlag Ende April unter dem Titel „Nach dem Krieg“ veröffentlichte – zwei Wochen vor dem Erscheinen des Originals. Die korrekte Übersetzung „Zwölf Nachkriegsgeschichten“ hätte das Buch, so mag man sich in München gedacht haben, in eine nicht nur entfernte, sondern auch unattraktive Vergangenheit verbannt.
Die Bedenken sind verständlich, entkleiden den Titel aber seiner Programmatik: Denn auf den scheinbaren Mangel an Attraktivität kommt es in diesen Erzählungen an. Sie sind Exerzitien im Umgang mit einer Vergangenheit, mit der man nicht umgehen kann, Berichte von Überlebenden, die nicht wissen und nicht wissen können, was ihnen widerfuhr. Eben Nachkriegsgeschichten, wobei das Wort „Krieg“ keineswegs nur den Zweiten Weltkrieg, sondern Katastrophen verschiedener Art bezeichnet: die Covid-19-Pandemie, den Tod einer engen Verwandten, den 11. September 2001. Jedes Mal sitzt da jemand, ein Mann, eine Frau, klaubt sich ein Dasein zusammen, und es ist nicht gewiss, wie es weitergeht.
Die zwölf Erzählungen sind sehr verschieden, was den historischen Gehalt, den Ton und die Perspektive betrifft, und wenn es um das Leben einer ursprünglich von den Philippinen stammenden, aber englisch erzogenen Hausangestellten geht, mag die Grenze des dichterischen Einfühlungsvermögens erreicht sein.
Andere Geschichten indessen sind von einer schon unheimlichen Präzision, die erste Erzählung zum Beispiel, die den Titel „Das Nächstbeste“ trägt, im Jahr 1959 spielt und von einem in der deutschen Provinz stationierten britischen Soldaten erzählt, der sich einen Tag freinimmt, um sich im Rathaus einer Kleinstadt nach dem Schicksal seiner jüdischen Familie zu erkundigen, die einst an diesem Ort lebte. Dabei stößt er auf einen Beamten, der als deutscher Offizier in britische Gefangenschaft geriet, während dieser Zeit die Klassiker der englischen Literatur studierte und nun dem jungen, unbeholfenen Mann in dessen eigener Sprache als kulturell weit überlegen gegenübertritt. Am Ende triumphiert zwar die Bürokratie. Aber der Weg dorthin ist lang, voller quälender Verwerfungen, die allenfalls angedeutet und nur knapp durch einen Sinn für das Zivile beherrscht werden, wobei sie jederzeit ins offene Verhängnis zu kippen drohen. Graham Swift lässt die Dinge in der Schwebe.
Der gefühlvolle Mensch darf sich am Reichtum der eigenen Empfindungen ergötzen
Der Erzähler, der in jeder Geschichte auf nahezu unheimliche Weise präsent ist, kennt seine Figuren besser, als diese sich selbst kennen. Er tritt auf als Geheimagent des Gefühls, fähig, auch das geringste Potenzial zur Peinlichkeit wahrzunehmen – um von größeren Heimsuchungen nicht anzufangen. Die Erzählungen berühren daher nicht nur das Sentimentale. Sie drängen sich vielmehr zum Sentimentalen, entschlossen und des eigenen Verfahrens bewusst. „Jetzt hatte er Ruth nicht mehr, und er hatte auch keine Enkeltochter mehr. Es war nicht mehr zu ertragen“, heißt es in „Schönheit“, der Geschichte eines älteren Mannes, dessen Frau dem Krebs zum Opfer fällt, dessen Enkelin sich selbst tötet, der von Schmerz zerrissen wird und dennoch, und durchaus nicht unschuldig, die Schönheit einer Frau wahrnimmt, die ihm das Sterbezimmer der Enkelin zeigt.
Sentimentalität, heißt es in der monumentalen Ästhetik des Hegelianers Friedrich Theodor Vischer aus dem Jahr 1846, sei ein „absichtliches Schwelgen in der Empfindung“. Die Gefühle seien dabei also nicht gleichsam natürlich, aus einem reinen Innen entstanden, sondern würden absichtlich herbeigeführt, vor allem aus dem Grund, damit sich der gefühlvolle Mensch am Reichtum der eigenen Empfindungen ergötze.
Das Sentimentale hat daher einen schlechten Ruf. Dass etwas sentimental sei, gilt als verwerfendes Urteil. Gedacht ist es nicht so: Denn was wäre Literatur, oder auch jede andere Kunst, wenn darin nicht Empfindungen „gemacht“ würden, mit Absicht und zu keinem anderen Zweck, als den Leser, Hörer oder Betrachter anzurühren? Und mit der willentlich erzeugten Empfindung überhaupt erträglich zu machen? „Die Mischung ästhetischer Freude mit einem moralischen Kummer, welche man gemeinhin jetzt ‚Sentimentalität‘ zu nennen pflegt“, sei „etwas gar zu hoffärtig“, schreibt Friedrich Nietzsche in „Menschliches, Allzumenschliches“. Keiner, meinte er, könne sich einer solchen Beseelung entziehen, mitgeweint würde immer: „Gebt es zu oder nicht, ihr Pharisäer des guten Geschmacks: Es ist so.“
Der Schmerz des doppelt verlassenen älteren Mannes, das moralisch Verwerfliche seines sachte erwachenden erotischen Interesses an einer weit jüngeren und zudem durch Pietät gegenüber einer Toten gebundenen Frau – das alles wäre, ohne Appell an die Empfindung erzählt, für den Leser kaum erträglich. Und mehr noch: Der Nachvollzug der Gefühle, das „absichtliche Schwelgen“, ist in diesen Erzählungen eine Technik für den Umgang mit Zweideutigkeiten der grundsätzlichen Art.
„Es heißt, wir erinnern uns an alles. Alles. Es ist alles da. Wir haben nur nicht den Schlüssel dazu“, heißt es in der letzten Geschichte dieses Bandes. Sie trägt den Titel „Pass“ und erzählt von einer alten Frau, die „Kindern“ zu vermitteln versucht, was Erinnerung ist. Oder auch nicht. Doch während die Frage nach den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Erinnerung in der Schwebe bleibt, entwickelt sich etwas anderes: ein Mitgefühl nicht nur für die alte Dame, sondern auch für das Alter. Es behält seinen Schrecken, aber dieser ist durch Empfindung gebändigt.
Sentimentalität kann etwas Quälendes sein, und zu Recht stehen sentimentale Menschen im Verdacht, sich hauptsächlich mit sich selbst beschäftigen zu wollen, worüber sie ihren Gefährten zu Last und Bedrängnis werden. Was aber, wenn man die Sentimentalität in ihrer Bewegungsrichtung drehen, das heißt: nach außen kehren könnte? Wenn sie sich in ein Mittel der Erkenntnis verwandeln ließe? Was, wenn man daraus Literatur machen könnte? Schon geschehen, lautet die Antwort auf solche Fragen. Man lese Graham Swifts Erzählungen.