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Neue Rilke-Biografien: Der sanfte Wutbürger. Empfohlen von Hilmar Klute.
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Im Jahr seines 150. Geburtstags erscheinen zwei unbedingt lesenswerte Biografien Rainer Maria Rilkes. Sie zeigen einen Dichter, der die grausamen Folgen unseres Menschenzeitalters vorweggenommen hat.
Vollständige Rezension anzeigen Neue Rilke-Biografien: Der sanfte Wutbürger. Empfohlen von Hilmar Klute. In der letzten Zeit sind uns die großen Autoren der literarischen Moderne wieder ein wenig näher gerückt. Das hat mit den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen zu tun, vor deren Hintergrund ihre Werke entstanden sind. Gedichte und Erzählungen, in denen wir uns mit unseren Gegenwartsängsten mitunter gespiegelt sehen. Ihre Erfahrungen des Krieges, ihre Zeugenschaft großer sozialer Verwerfungen und die frühe Ahnung, dass mit dem Faschismus ein bedrückendes Faszinosum in die Welt rückt, lässt die Autoren jener Jahre zu frühen Kronzeugen für geschichtliche Katastrophen werden. In diesem Jahr stehen die 150. Geburtstage zweier der bedeutendsten deutschen Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts an. Thomas Mann und Rainer Maria Rilke sind im Jahr 1875 geboren, jeder von ihnen ein Planet, an deren Werk und Leben Exegeten vermutlich bis ans Ende der Geistesgeschichte ihre Deutungen anprobieren werden. Beide Dichter eint eine große Faszination für den Verfall, für die Vorläufigkeit bestehender Gewissheiten. Beide kommen sie aus der Schule der Décadence, und sowohl Rilke als auch Thomas Mann haben die dunklen und menschenfeindlichen Töne jener Epoche der überfeinerten Kunstsaturnalien vernommen. Aber die beiden fanden nicht zueinander. Mann störte das „Snobistische und Preziöse“ an Rilke, umgekehrt fand Rilke für „Der Tod in Venedig“ die verächtliche Formel, es handele sich bei Manns Novelle um „verschüttete Tinte“. Gemocht haben sie einander nicht, gleichwohl stehen beide für die wohl aufregendste Kunstepoche des vergangenen Jahrhunderts. Während das Leben und Schreiben Thomas Manns die Erfahrungen der Nazizeit und der Emigration mit umspannt, endet das Leben Rainer Maria Rilkes verhältnismäßig früh in der Spätphase jener Moderne, der Rilke mit seinen großen Gedichten, den „Duineser Elegien“, den „Sonetten an Orpheus“ und mit seinem dunklen, in rauem und bitterem Ton geschriebenen Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ eine sehr eigene, epochenbildende Prägung aufgesetzt hat. Zeit seines Lebens habe Rilke eine „Muttervergiftung“ mit sich herumgeschleppt Zu Rilkes 150. Todestag sind nun zwei große Biografien erschienenen. Die eine stammt von Sandra Richter, der Leiterin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, das vor wenigen Jahren den umfangreichen Nachlass Rilkes von dessen Erben gekauft hat. Die zweite hat der Literaturwissenschaftler Manfred Koch verfasst. Er schickt seinen Rilke unter dem Zuruf „Dichter der Angst“ auf die Lebensreise, die eigentlich ein einziges Wechselspiel von Krise und Neuerfindung ist. Koch lässt seinen Rilke gleich zu Beginn im Paris der Jahrhundertwende auftreten. In den Suppenküchen der damals einzigen wirklichen Großstadt Europas lernt Rilke das Hässliche, den Verfall und das Elend zum poetischen Material werden zu lassen. Es war ein zerrüttetes Elternhaus, in das René Rilke am 4. Dezember 1875 geboren wurde. Der Vater Josef war ein mittlerer Eisenbahnbeamter, die Mutter Phia eine Frau mit Adelstick. In ihrem Sohn wollte sie ihre wiedergeborene Tochter sehen, die ein paar Jahre zuvor im Kindesalter gestorben war. René musste Mädchenkleider tragen, was in ihm „einen Kitzel am ganzen Körper“ erzeugt hat. Damit ist der kleine René ein Kind, schreibt Sandra Richter, das mit der binären Geschlechterordnung hadert. Ein Zweifel, welchen der spätere Rilke offenbar erfolgreich beiseiteschaffte, denn der „Dichter des Überzartesten“ sei durchaus robust gewesen, wenn es um die Durchsetzung seiner literarischen Interessen ging. Phias Obsession für den Adel wird der Sohn übernehmen und in Literatur kompensieren, Gräfinnen werden sein Leben organisieren, und auch die zentrale Figur seines Romans „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ entstammt der dänischen Aristokratie. Anders als Sandra Richter möchte sich Manfred Koch nicht so sehr auf die Lesart der Geschlechtscamouflage durch die Mutter verlassen. Die Einkleidung von kleinen Jungen mit Mädchenröcken sei Ende des 19. Jahrhunderts gang und gäbe gewesen, schreibt Koch. Und trotzdem habe Rilke zeit seines Lebens eine „Muttervergiftung“ mit sich herumgeschleppt. In jedem Fall lässt sich das Leben Rilkes, folgt man beiden Biografen, vor allem als eine Art höhere Krankheitsgeschichte deuten, deren klinische Therapie durch Sigmund Freud an Rilkes Indifferenz gescheitert war. Dennoch hat es zwischen den beiden Giganten der Moderne einen lehrreichen Austausch gegeben, den kürzlich im Rilke-Nachlass entdeckte Briefwechsel belegen. Inwieweit der unselige Einfluss der Mutter, mit der Rilke, der vor ihr starb, später brach, sein Frauenbild bestimmte, lässt sich zumindest an seinen Gefährtinnen abschätzen. Vor allen anderen an Lou Andreas-Salomé, die zuvor Friedrich Nietzsche und den ihr verfallenen Philosophen Paul Rée als Liebhaber zurückgewiesen hatte, weil diese ihr „leibfern“ waren. Auf Rilke selbst schien das nicht zuzutreffen, obgleich er mit seinem fliehenden Kinn, seiner hängenden Unterlippe und seinem schlechten Atem nicht unbedingt die phänotypische Alternative darstellte. Aber Lou wird nicht nur seine Liebhaberin. Sie beginnt ihn zu erziehen, verordnet ihm eine klare, ästhetisch anspruchsvolle Handschrift, zwingt ihn, sprachlichen Zierrat abzulegen, was bei Rilke allerdings zu stilistischen Verkrampfungen führt, aus denen er sich nur selbst zu befreien vermag. Immerhin verhalf ihm Andreas-Salomé zu einer gewissen politischen Wachheit. Während der kurzlebigen Münchner Räterepublik lebte Rilke in Schwabing und ließ nach deren gewaltsamem Ende den verfolgten bayerischen Revolutionär und Vorsitzenden der Unabhängigen Sozialdemokraten Ernst Toller bei sich wohnen. Benito Mussolini verteidigte Rilke gegen dessen Kritiker, denn Freiheit, glaubte Rilke, sei ein gefährliches Grundbedürfnis. Humanität und Internationalität waren ihm abstrakte Begriffe, und den Pazifismus lehnte er ab. Manfred Koch überblendet Rilkes Haltung zum italienischen Diktator mit der Ansicht des Dichters zur Weimarer Republik, die gegen Mitte der Zwanzigerjahre in guter demokratischer Blüte stand. Aber der Parlamentarismus war für Rilke „leer und selbstgefällig“ und stand in unattraktivem Gegensatz zur „wohltätigen und sicheren Gewalt“ des Diktators. Ein sanfter Wutbürger steckte auch im späten Rilke. Rilke stilisierte sich gerne zum Solitär und sah auch in anderen Künstlern, gleichgültig, wie sozial sie veranlagt waren, große Einsame. In dem Bildhauergiganten Auguste Rodin sollte er sich täuschen. Ihn interessierte der stille unterwürfige Dichter nicht, Rodins Welt waren die Salons und seine Affären mit Schülerinnen. Nur als Privatsekretär ließ er sich Rilkes Dienste gefallen, auch wenn der in dem ihm eigenen Pathos schwor, den Ruhm des Meisters in die Welt zu tragen. Am Ende setzte Rodin ihn auf die Straße. Aber immer wieder suchte Rilke auch die Gemeinschaft, zum Beispiel die Künstlerkommune in Worpswede, wo er Clara Westhoff kennenlernte, mit der er nach Paris zog, wo die gemeinsame Tochter Ruth zur Welt kam. Auch diese kleine Gemeinschaft zerbrach bald an Rilkes Absonderungsbedürfnis, alternative Erziehungsmodelle wurden herangezogen. Hilfreich war den beiden verzweifelten Ehegatten zunächst die schwedische Schriftstellerin Ellen Key, die für die Bezahlung von Müttern kämpfte, damit diese mehr Zeit für ihre Kinder haben. Aber Keys Interesse fokussierte sich schnell auf den Dichter selbst, dessen Werk sie verfallen war, die Familie blieb wieder auf der Strecke. Rilke selbst schien immer wieder auf der Suche nach neuen Zufluchten zu sein. Seine frühe Russland-Begeisterung, die unter Aufwendung folkloristischen Kitsches bis hin zur kasachischen Bauerntracht immerhin noch unter Anleitung von Lou Andreas-Salomé stand, führte ihn zum Gut Leo Tolstois. Aber der Großdichter hatte kein Interesse an dem dünnen jungen Deutschen, der radikale Sozialist konnte mit dessen Armutsvergötterei nichts anfangen. Zum Schreiben lässt sich Rilke die schönsten Domizile europäischer adliger Damen zur Verfügung stellen – in Duino richtet er sich im Schloss der Marie von Thurn und Taxis ein. Bevor aber das große poetische Geschenk aus Wind und Wellen auf ihn zustürmt, die ersten Verse der ersten Duineser Elegie, verfällt Rilke einem Pubertätsrausch, der exzessiven Masturbation, die seinen eigenen Körperekel miteinschließt und offenbar eine hoch pathologische Angelegenheit ist, wie Manfred Koch aus Rilkes Roman ableitet: „Das, was mir das erste, tiefe Entsetzen eingejagt hatte, wenn ich als Kind im Fieber lag: das Große“, so Rilke, „Jetzt war es da. Jetzt wuchs es aus mir heraus wie eine Geschwulst.“ Die Elegien selbst dann bilden Rilkes „Seelendrama mit mythischen Akteuren“, eine Anrufung der Engel, das Gebet des Ungläubigen, der das Menschliche mit dem Göttlichen verhandelt. Kurz darauf entstehen wie im Rausch die Sonette an Orpheus, die komplexe Beschwörung des Menschen in der Kunst. Rainer Maria Rilkes Leben ist derart eng mit seinem Werk verknüpft, dass jede Lebensbeschreibung auch eine Exegese seiner Texte sein muss. Manfred Koch hat in seinem Buch eine überzeugende und zupackende Neulektüre von Rilkes Prosa gewagt und für dessen lyrischen Schlager „Der Panther“ mit einer knappen und überraschenden Interpretation ein neues Verständnismodell geliefert. Sandra Richter zeichnet Rilkes Leben als das eines von Kindheit an in Identitätsturbulenzen steckenden Mannes. Fast ausschließlich in seinen Beziehungen zu Frauen findet Rilke zu jenem Ton, der ihn in seinen größten Texten an die Grenze des Sagbaren führt. Beide Biografien sind beeindruckende und zudem sehr fesselnde Annäherungen an diesen viel zitierten und wohl zu wenig gelesenen großen Dichter seiner und womöglich auch unserer Zeit.
In der letzten Zeit sind uns die großen Autoren der literarischen Moderne wieder ein wenig näher gerückt. Das hat mit den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen zu tun, vor deren Hintergrund ihre Werke entstanden sind. Gedichte und Erzählungen, in denen wir uns mit unseren Gegenwartsängsten mitunter gespiegelt sehen. Ihre Erfahrungen des Krieges, ihre Zeugenschaft großer sozialer Verwerfungen und die frühe Ahnung, dass mit dem Faschismus ein bedrückendes Faszinosum in die Welt rückt, lässt die Autoren jener Jahre zu frühen Kronzeugen für geschichtliche Katastrophen werden.
In diesem Jahr stehen die 150. Geburtstage zweier der bedeutendsten deutschen Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts an. Thomas Mann und Rainer Maria Rilke sind im Jahr 1875 geboren, jeder von ihnen ein Planet, an deren Werk und Leben Exegeten vermutlich bis ans Ende der Geistesgeschichte ihre Deutungen anprobieren werden. Beide Dichter eint eine große Faszination für den Verfall, für die Vorläufigkeit bestehender Gewissheiten. Beide kommen sie aus der Schule der Décadence, und sowohl Rilke als auch Thomas Mann haben die dunklen und menschenfeindlichen Töne jener Epoche der überfeinerten Kunstsaturnalien vernommen. Aber die beiden fanden nicht zueinander. Mann störte das „Snobistische und Preziöse“ an Rilke, umgekehrt fand Rilke für „Der Tod in Venedig“ die verächtliche Formel, es handele sich bei Manns Novelle um „verschüttete Tinte“. Gemocht haben sie einander nicht, gleichwohl stehen beide für die wohl aufregendste Kunstepoche des vergangenen Jahrhunderts.
Während das Leben und Schreiben Thomas Manns die Erfahrungen der Nazizeit und der Emigration mit umspannt, endet das Leben Rainer Maria Rilkes verhältnismäßig früh in der Spätphase jener Moderne, der Rilke mit seinen großen Gedichten, den „Duineser Elegien“, den „Sonetten an Orpheus“ und mit seinem dunklen, in rauem und bitterem Ton geschriebenen Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ eine sehr eigene, epochenbildende Prägung aufgesetzt hat.
Zeit seines Lebens habe Rilke eine „Muttervergiftung“ mit sich herumgeschleppt Zu Rilkes 150. Todestag sind nun zwei große Biografien erschienenen. Die eine stammt von Sandra Richter, der Leiterin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, das vor wenigen Jahren den umfangreichen Nachlass Rilkes von dessen Erben gekauft hat. Die zweite hat der Literaturwissenschaftler Manfred Koch verfasst. Er schickt seinen Rilke unter dem Zuruf „Dichter der Angst“ auf die Lebensreise, die eigentlich ein einziges Wechselspiel von Krise und Neuerfindung ist. Koch lässt seinen Rilke gleich zu Beginn im Paris der Jahrhundertwende auftreten. In den Suppenküchen der damals einzigen wirklichen Großstadt Europas lernt Rilke das Hässliche, den Verfall und das Elend zum poetischen Material werden zu lassen.
Es war ein zerrüttetes Elternhaus, in das René Rilke am 4. Dezember 1875 geboren wurde. Der Vater Josef war ein mittlerer Eisenbahnbeamter, die Mutter Phia eine Frau mit Adelstick. In ihrem Sohn wollte sie ihre wiedergeborene Tochter sehen, die ein paar Jahre zuvor im Kindesalter gestorben war. René musste Mädchenkleider tragen, was in ihm „einen Kitzel am ganzen Körper“ erzeugt hat. Damit ist der kleine René ein Kind, schreibt Sandra Richter, das mit der binären Geschlechterordnung hadert. Ein Zweifel, welchen der spätere Rilke offenbar erfolgreich beiseiteschaffte, denn der „Dichter des Überzartesten“ sei durchaus robust gewesen, wenn es um die Durchsetzung seiner literarischen Interessen ging. Phias Obsession für den Adel wird der Sohn übernehmen und in Literatur kompensieren, Gräfinnen werden sein Leben organisieren, und auch die zentrale Figur seines Romans „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ entstammt der dänischen Aristokratie.
Anders als Sandra Richter möchte sich Manfred Koch nicht so sehr auf die Lesart der Geschlechtscamouflage durch die Mutter verlassen. Die Einkleidung von kleinen Jungen mit Mädchenröcken sei Ende des 19. Jahrhunderts gang und gäbe gewesen, schreibt Koch. Und trotzdem habe Rilke zeit seines Lebens eine „Muttervergiftung“ mit sich herumgeschleppt.
In jedem Fall lässt sich das Leben Rilkes, folgt man beiden Biografen, vor allem als eine Art höhere Krankheitsgeschichte deuten, deren klinische Therapie durch Sigmund Freud an Rilkes Indifferenz gescheitert war. Dennoch hat es zwischen den beiden Giganten der Moderne einen lehrreichen Austausch gegeben, den kürzlich im Rilke-Nachlass entdeckte Briefwechsel belegen.
Inwieweit der unselige Einfluss der Mutter, mit der Rilke, der vor ihr starb, später brach, sein Frauenbild bestimmte, lässt sich zumindest an seinen Gefährtinnen abschätzen. Vor allen anderen an Lou Andreas-Salomé, die zuvor Friedrich Nietzsche und den ihr verfallenen Philosophen Paul Rée als Liebhaber zurückgewiesen hatte, weil diese ihr „leibfern“ waren. Auf Rilke selbst schien das nicht zuzutreffen, obgleich er mit seinem fliehenden Kinn, seiner hängenden Unterlippe und seinem schlechten Atem nicht unbedingt die phänotypische Alternative darstellte. Aber Lou wird nicht nur seine Liebhaberin. Sie beginnt ihn zu erziehen, verordnet ihm eine klare, ästhetisch anspruchsvolle Handschrift, zwingt ihn, sprachlichen Zierrat abzulegen, was bei Rilke allerdings zu stilistischen Verkrampfungen führt, aus denen er sich nur selbst zu befreien vermag. Immerhin verhalf ihm Andreas-Salomé zu einer gewissen politischen Wachheit. Während der kurzlebigen Münchner Räterepublik lebte Rilke in Schwabing und ließ nach deren gewaltsamem Ende den verfolgten bayerischen Revolutionär und Vorsitzenden der Unabhängigen Sozialdemokraten Ernst Toller bei sich wohnen.
Benito Mussolini verteidigte Rilke gegen dessen Kritiker, denn Freiheit, glaubte Rilke, sei ein gefährliches Grundbedürfnis. Humanität und Internationalität waren ihm abstrakte Begriffe, und den Pazifismus lehnte er ab. Manfred Koch überblendet Rilkes Haltung zum italienischen Diktator mit der Ansicht des Dichters zur Weimarer Republik, die gegen Mitte der Zwanzigerjahre in guter demokratischer Blüte stand. Aber der Parlamentarismus war für Rilke „leer und selbstgefällig“ und stand in unattraktivem Gegensatz zur „wohltätigen und sicheren Gewalt“ des Diktators. Ein sanfter Wutbürger steckte auch im späten Rilke.
Rilke stilisierte sich gerne zum Solitär und sah auch in anderen Künstlern, gleichgültig, wie sozial sie veranlagt waren, große Einsame. In dem Bildhauergiganten Auguste Rodin sollte er sich täuschen. Ihn interessierte der stille unterwürfige Dichter nicht, Rodins Welt waren die Salons und seine Affären mit Schülerinnen. Nur als Privatsekretär ließ er sich Rilkes Dienste gefallen, auch wenn der in dem ihm eigenen Pathos schwor, den Ruhm des Meisters in die Welt zu tragen. Am Ende setzte Rodin ihn auf die Straße.
Aber immer wieder suchte Rilke auch die Gemeinschaft, zum Beispiel die Künstlerkommune in Worpswede, wo er Clara Westhoff kennenlernte, mit der er nach Paris zog, wo die gemeinsame Tochter Ruth zur Welt kam. Auch diese kleine Gemeinschaft zerbrach bald an Rilkes Absonderungsbedürfnis, alternative Erziehungsmodelle wurden herangezogen. Hilfreich war den beiden verzweifelten Ehegatten zunächst die schwedische Schriftstellerin Ellen Key, die für die Bezahlung von Müttern kämpfte, damit diese mehr Zeit für ihre Kinder haben. Aber Keys Interesse fokussierte sich schnell auf den Dichter selbst, dessen Werk sie verfallen war, die Familie blieb wieder auf der Strecke.
Rilke selbst schien immer wieder auf der Suche nach neuen Zufluchten zu sein. Seine frühe Russland-Begeisterung, die unter Aufwendung folkloristischen Kitsches bis hin zur kasachischen Bauerntracht immerhin noch unter Anleitung von Lou Andreas-Salomé stand, führte ihn zum Gut Leo Tolstois. Aber der Großdichter hatte kein Interesse an dem dünnen jungen Deutschen, der radikale Sozialist konnte mit dessen Armutsvergötterei nichts anfangen.
Zum Schreiben lässt sich Rilke die schönsten Domizile europäischer adliger Damen zur Verfügung stellen – in Duino richtet er sich im Schloss der Marie von Thurn und Taxis ein. Bevor aber das große poetische Geschenk aus Wind und Wellen auf ihn zustürmt, die ersten Verse der ersten Duineser Elegie, verfällt Rilke einem Pubertätsrausch, der exzessiven Masturbation, die seinen eigenen Körperekel miteinschließt und offenbar eine hoch pathologische Angelegenheit ist, wie Manfred Koch aus Rilkes Roman ableitet: „Das, was mir das erste, tiefe Entsetzen eingejagt hatte, wenn ich als Kind im Fieber lag: das Große“, so Rilke, „Jetzt war es da. Jetzt wuchs es aus mir heraus wie eine Geschwulst.“ Die Elegien selbst dann bilden Rilkes „Seelendrama mit mythischen Akteuren“, eine Anrufung der Engel, das Gebet des Ungläubigen, der das Menschliche mit dem Göttlichen verhandelt. Kurz darauf entstehen wie im Rausch die Sonette an Orpheus, die komplexe Beschwörung des Menschen in der Kunst.
Rainer Maria Rilkes Leben ist derart eng mit seinem Werk verknüpft, dass jede Lebensbeschreibung auch eine Exegese seiner Texte sein muss. Manfred Koch hat in seinem Buch eine überzeugende und zupackende Neulektüre von Rilkes Prosa gewagt und für dessen lyrischen Schlager „Der Panther“ mit einer knappen und überraschenden Interpretation ein neues Verständnismodell geliefert. Sandra Richter zeichnet Rilkes Leben als das eines von Kindheit an in Identitätsturbulenzen steckenden Mannes. Fast ausschließlich in seinen Beziehungen zu Frauen findet Rilke zu jenem Ton, der ihn in seinen größten Texten an die Grenze des Sagbaren führt. Beide Biografien sind beeindruckende und zudem sehr fesselnde Annäherungen an diesen viel zitierten und wohl zu wenig gelesenen großen Dichter seiner und womöglich auch unserer Zeit.
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