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Wie groß war der Abstand zum „Führer“?
Mit dem Kriegsende war alles über Nacht verschwunden: Die Hakenkreuzfahnen, NSDAP-Parteibücher, Hitlerbüsten und „Mein Kampf“-Ausgaben. Wenn überhaupt, schien der Nationalsozialismus über die Deutschen „hereingebrochen“, durch „äußere Kräfte“ und Männer in schwarzen Ledermänteln. Und am Ende hatte man entweder „nichts gewusst“ – oder es war eben der „Führer“ Adolf Hitler, der an allem die Schuld trug. Gegen diese Form deutscher Selbstviktimisierung, die über viele Jahrzehnte das öffentliche Bild des Nationalsozialismus dominierte – und inzwischen wieder reanimiert wird – haben mehrere Generationen an Historikerinnen und Historikern angeschrieben. Einer davon, Peter Longerich, gehört dabei zu den besonders produktiven, der auf ein langes beeindruckendes Forscherleben zurückblicken kann.
Sein jüngstes Buch trägt den Titel: „Unwillige Volksgenossen“ – und es hinterlässt einen äußerst zwiespältigen Eindruck. Man merkt ihm einen gewissen Furor gegen einen Forschungstrend an, der seit längerer Zeit verstärkt die Bindekräfte des Nationalsozialismus, die unterschiedlichen Formen der Teilhabe untersucht und dabei den hohen Grad an gesellschaftlicher Zustimmung zum NS-Regime betont. Wichtig war dabei, gerade die alte, allzu einfache Unterscheidung zwischen „den Nationalsozialisten“ einerseits und „den Deutschen“ anderseits aufzubrechen, in der selbst viel Selbstentlastung steckt. Begleitet war der veränderte Blick auf den Nationalsozialismus davon, dass er sich nicht mehr allein mit den zentralen Führungsfiguren beschäftigte, sondern die Alltags- und Erfahrungsgeschichte in den Mittelpunkt stellte – und wissen wollte, worin die Gründe für die erstaunliche Mobilisierungskraft des Nationalsozialismus lagen. Der Terror alleine konnte dies jedenfalls nicht erklären.
Keine hermetisch abgeschlossene Ideologie
Deutlich ist dabei geworden, dass der NS-Staat unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen eigene unterschiedliche Partizipationsangebote machte – immer getragen von rassistischen Prämissen der Ausgrenzung, die zugleich für die „Volksgenossinnen und Volksgenossen“ manche Vorteile ergaben. Man brauchte jedenfalls gerade nicht mit allen Teilen der NS-Ideologie übereinzustimmen, man konnte das Regime und seine Funktionäre durchaus kritisieren, um sich an Raub, Gewalt und Ausbeutung trotzdem zu beteiligen. Der Nationalsozialismus war, so ist deutlich geworden, keine hermetisch abgeschlossene Ideologie, sondern bot unterschiedlichen Gruppen verschiedene Angebote, gekoppelt an die Idee einer „Volksgemeinschaft“, die es jeden Tag aufs Neue durch eigenes Handeln herzustellen galt.
Peter Longerich setzt nun eine grundsätzlich andere Sicht auf das Verhältnis der deutschen Gesellschaft zum Nationalsozialismus dagegen. Sein zentrales Argument lautet: „Das Regime konnte sich nicht auf einen breiten Konsens in der Bevölkerung stützen“. Zwar stehe „außer Frage, dass die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung sich bei allem Dissens letztlich doch im Sinne des Regimes verhielt und durch ihr alltägliches Handeln dessen Politik mittrug oder zumindest hinnahm und dass Widerstand in seinen verschiedenen Formen eher die Ausnahme war. Nur war diese konforme Haltung überwiegend eben nicht das Resultat innerer Überzeugung und Zustimmung.“ Longerich stützt seine starke These auf die systematische Auswertung der in vielen Arbeiten bereits verwendeten „Stimmungsberichte“ verschiedener Behörden und Institutionen, die er in großer Fülle zusammengetragen hat.
Dazu gehören die monatlichen „Stimmungs- und Lageberichte“ der Gestapo, Berichtsserien der Verwaltung, vor allem der gut überlieferten bayerischen Landesbehörden, der Justiz und auch der Wehrmacht. Diese Berichte haben das Interesse vieler Forschenden bereits auf sich gezogen, und Longerich selbst hat sie für seine Arbeit über die Deutschen und die Judenverfolgung intensiv und mit Bedacht ausgewertet. Damals kam er zu dem Schluss: „Die zeitgenössischen Berichte konnten die tatsächliche ‚Stimmung‘ oder die ‚Meinungsbildung‘ nicht erfassen, da sie – verglichen mit modernen Formen der Demoskopie – methodisch völlig unterentwickelt waren. Obwohl durchaus Anstrengungen zur objektiven Berichterstattung unternommen wurden, gaben die Berichte, die aus der Perspektive der ‚teilnehmenden Beobachtung‘ erstellt wurden, in erster Linie subjektive Eindrücke der Beobachter wieder; repräsentativ konnten sie jedoch in keiner Weise sein.“ Auch dieses Mal verweist er einleitend auf einige grundsätzliche Probleme im Umgang mit seinem Material. So macht er deutlich, dass die Berichte unhinterfragt von einer geteilten völkisch-rassistischen Weltsicht ausgingen, wonach die Verfolgung der Juden ebenso wie der politischen Linken legitim sei, sich die demokratische Ordnung überlebt habe und das „Führerprinzip“ die Grundlage für den Aufbau eines „Dritten Reiches“ bilden müsse.
Reichen viele Beschwerden für eine Ablehnung?
Doch nun argumentiert er überraschend, diese unterschiedlichen Einschränkungen ließen sich gleichsam durch die schiere Masse der ausgewerteten Berichte überwinden. Schließlich fänden sich in den meisten der Berichte immer sehr ähnliche Beschwerden der Bevölkerung. Zu den wichtigen zählt er: die Klage über schlechte Arbeitsbedingungen, Probleme der Versorgung, die wirtschaftliche Lage des Mittelstandes und des Bürgertums, die Auseinandersetzung mit den Kirchen, Vorbehalte gegen die Selbstbereicherung von Nazi-Bonzen und die Angst vor einem Krieg – Themen, die schließlich auch weitere Strecken seiner Darstellung strukturieren, die von der nationalsozialistischen Machteroberung im Jahr 1933 bis zum Untergang des NS-Regimes reicht.
Indes löst die schiere Masse der Berichte nicht ihr quellenkritisches Problem. Immer noch bilden die vielen amtlichen und parteinahen Einschätzungen die zeitgenössischen Sprachmuster derjenigen ab, die unsystematische Beobachtungen von Dissens, Kritik oder Ärger für ihre vorgesetzten Dienststellen formulierten. Wertlos sind sie keineswegs. Und doch entsteht auf diese Weise ein erstaunlich einseitiges und unterkomplexes Bild der deutschen Gesellschaft im „Dritten Reich“, weil Longerich nur selten (wie in den Kapiteln zur „Machtergreifung“) das umsetzt, was er vorschlägt: nämlich die Berichte zu kontextualisieren. Kaum einem der beschriebenen Konfliktherde geht er systematisch nach und setzt seine Befunde in Beziehung zu anderen Quellen und Forschungen.
Bei seiner Darstellung der Kirchen im „Dritten Reich“ entsteht so der irritierende Eindruck, das Verhältnis von Christentum und Nationalsozialismus habe beinahe ausschließlich aus Streit und Konflikten, aus renitenten Pfarrern und mutig-frommen Gläubigen bestanden. Das muss passieren, wenn Longerich eben nur an ausgewählten Quellen entlang schreibt, die genau ein solches Bild zeichnen. All die unterschiedlichen Formen der Kooperation, der leidenschaftlichen Unterstützung und bereitwilligen Anpassung, der aktiven antisemitischen Politik, der ideologischen Zustimmung und „antibolschewistischen“ Begeisterung – sie finden sich, wenn überhaupt, nur auf Nebensätze verteilt.
Tiefe Abneigung gegen individuelle Zeugnisse
Longerich hat – in großer Klarheit – über diese und andere Fragen immer wieder geschrieben. Umso unverständlicher ist nun diese Form der radikalen Einseitigkeit. Ihre tiefere Ursache dürfte in seiner so distanzierten Haltung gegenüber erfahrungsgeschichtlichen Quellen liegen, die er auch ausdrücklich formuliert: Individuelle Zeugnisse, Tagebücher, haben für ihn einen „allenfalls illustrativen Wert“ – so, als würde sich die gesellschaftliche Wirklichkeit des Nationalsozialismus ausschließlich in den Akten niederschlagen, die das Regime selbst produziert hat. Deshalb finden sich in dem Buch beispielsweise auch keine jüdischen Stimmen, die ihre ganz eigenen, bitteren Erfahrungen mit den „unwilligen Volksgenossen“ machen mussten.
Solche alten Vorbehalte gegenüber individuellen Erfahrungsgeschichten schienen eigentlich längst überwunden. Eine Neuinterpretation wird man diese Befunde deshalb auch nicht nennen können. Zu den fast vergessenen Kämpfen der Vergangenheit passt auch Longerichs Überzeugung, wie überhaupt eine Geschichte des Nationalsozialismus geschrieben werden könne: „Diktaturen funktionieren hauptsächlich ‚top-down‘ und können den sie angeblich tragenden Konsens durch die Kombination von Medienmonopol, Kontrolle der Öffentlichkeit und Repression künstlich herstellen.“ Dass Propaganda und Terror zentrale Herrschaftstechniken des NS-Regimes waren, steht außer Frage. Aber ein solcher Blick auf die Funktionsweisen nationalsozialistischer Herrschaft lässt doch wenig Raum für die zentrale Dimension gesellschaftlicher, gänzlich freiwilliger Selbstmobilisierung erheblicher Teile der deutschen Gesellschaft, die das Regime mit seinen Gewaltverbrechen getragen hat. Dafür bräuchte es aber einen weiteren Blick. Nein – die Deutschen waren vieles, aber sicher keine „unwilligen Volksgenossen“.
Attraktive Möglichkeit, sich zu beteiligen
Einen anderen Akzent setzten die Beiträge in dem von Felix Bohr herausgegebenen Band „Hitlers treues Volk“. Die Beiträge sind bereits vor einiger Zeit in der Reihe Spiegel Geschichte erschienen und behandeln auf knappem Raum wichtige Aspekte nationalsozialistischer Gesellschaftspolitik. Einen Anspruch auf Vollständigkeit hat der Band nicht, und auch die Themenauswahl wird nicht einzeln begründet. Insgesamt bieten die Texte eine gute Mischung aus eher journalistisch eingängigen und wissenschaftlich breiter recherchierten kleinen Fallstudien. Und so geht es um die Anfänge des Nationalsozialismus in Thüringen ebenso wie um die Geschichte nationalsozialistischer Freizeitorganisationen, um die Rolle von Journalistinnen im Dritten Reich, um NS-Propaganda, Flucht und Exil, um Massenorganisationen wie die HJ, insbesondere aber auch um unterschiedliche individuelle Lebensgeschichten und Tagebücher.
Lesenswert ist insbesondere – gerade in der Auseinandersetzung mit den „unwilligen Volksgenossen“ – das Interview mit dem Historiker und NS-Experten Michael Wildt. Dieser betont einerseits die zentrale Bedeutung nationalsozialistischer Herrschaftsinstanzen und damit auch der Gewalt, zugleich aber macht er deutlich, worin die Attraktivität des Nationalsozialismus auch bestand: „Von oben wurde die rassistische und antisemitische ,Volksgemeinschaft‘ mit klaren Feindbildern vorgegeben: die Neuerfindung des deutschen Volkes primär in klarer antisemitischer Abgrenzung zu Juden. Von unten bot diese Vision eine attraktive Möglichkeit, sich zu beteiligen.“ Und davon machte ein erheblicher Teil der „Volksgenossinnen“ und „Volksgenossen“ regen Gebrauch.