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Sophie Hunger: „Walzer für Niemand“: Die Frau, die vom Berg stieg. Empfohlen von Christiane Lutz, Süddeutsche Zeitung
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Ein Aufwachsen mit dem Zauber und der Kraft der Musik - und die Geschichte einer Freundschaft, deren Innigkeit zerstörerisch ist. Die Ausnahmemusikerin Sophie Hunger schenkt uns einen so abgründigen wie poetischen, einen tragikomischen und raffinierten Coming-of-Age-Roman, der davon erzählt, was wir verlieren müssen, um etwas zu werden.
Ein Mädchen und ihr bester Freund Niemand. Als Kinder von Militärattachés ist ihr Aufwachsen geprägt von ständigen Ortswechseln. Vom Rhythmus der Musik getragen erleben sie Magie und Erschütterungen von Kindheit und Jugend. Am glücklichsten sind sie, wenn sie sich in ihrer Plattensammlung verlieren, wenn sie im Atlas die Welt nach Bandnamen neu kartografieren, wenn sie im Klavierunterricht Dezibelangaben herausbrüllen oder in Songs die Sätze finden, die schon immer in ihnen gelauert haben. Sie verstecken sich in der Musik und werden von ihr versteckt, aber immer haben sie einander.
Doch dann bekommt die Freundschaft Risse. Während Niemand eine Obsession für die Volkskunde der Walserinnen entwickelt, von denen die Erzählerin abstammt, und während sie selbst erste eigene Lieder schreibt, bahnt sich eine Katastrophe an.
Sophie Hunger gelingt es auf beeindruckende Weise, ihre besonderen Qualitäten als Songwriterin in einen vielschichtigen und bewegenden Roman über das Werden, die Freundschaft und das Elementare der Musik zu verwandeln.
Als Musikerin betört Sophie Hunger mit einer fast mysteriösen Aura, ihr erster Roman ist rätselhaft. Ein Treffen in Zürich aber beweist: Sie selbst ist erstaunlich geerdet.
Vollständige Rezension anzeigen Sophie Hunger: „Walzer für Niemand“: Die Frau, die vom Berg stieg. Empfohlen von Christiane Lutz Der Schnee ist nicht mehr da. Dabei hätte sich Sophie Hunger gern zum Spaziergang in einer winterlichen Landschaft getroffen. Oder eben in der Großstadtversion davon. Es ist Ende Februar, aber schon warm genug in Zürich, dass man sich auf einer Bank sitzend draußen unterhalten kann. Über Sophie Hungers neuen Roman, über ihre Musik und über das Alpenvolk der Walser. Zu denen wird später noch einiges zu erklären sein, weil sie eine große Rolle in Hungers Leben spielen. Der Lindenhof ist ein beliebter Aussichtspunkt mit Blick hinunter in die Altstadt über die Limmat und hinauf zur ETH, zur renommierten Eidgenössischen Technischen Hochschule, an der, das wird Sophie Hunger sagen, sich in Zürich die wirklich aufregenden Dinge abspielen. Große Erfindungen würden dort wahrscheinlich genau in diesem Moment gemacht. Sophie Hunger, 41, protestiert nicht, wenn man auch sie als Erfinderin bezeichnet. Dabei wäre die herkömmliche Berufsbezeichnung wohl eher Künstlerin, Musikerin, Songschreiberin. Eine herausragende noch dazu. Labels, die immer auch gewisse Erwartungen ans Œuvre mit sich bringen, die interessierten sie nicht. Damit hat man erst einmal keine Antwort auf die Frage, warum die Musikerin Sophie Hunger jetzt einen Roman geschrieben hat. „Walzer für Niemand“ heißt er, wie einer ihrer markantesten Songs. Nicht wegen des Schriftstellerinnen-Labels also. „Musiker“, sagt sie, „sagen über sich oft, sie schreiben immer dasselbe Lied in verschiedenen Varianten. Ohne beantworten zu wollen, ob das so ist, bei mir ist vielleicht ‚Walzer für Niemand‘ ein Grundmuster. Was wäre also, wenn ich diesen Song reinterpretieren würde als Roman?“ Das habe sie sich gefragt. Sophie Hunger trägt eine Sonnenbrille mit hellen Gläsern, obwohl keine Sonne scheint. In frühen Fernsehinterviews wirkte sie oft gequält, ihr Blick unangenehm lang in die Leere gerichtet. Davon ist heute kaum mehr etwas zu spüren, sie ist präsent und lacht. Eine große Frau, die den Eindruck vermittelt, jederzeit zu einer Wanderung aufbrechen zu können. Ein Song ist die Verdichtung auf drei Minuten, ein Roman wie ein Fächer, den sie aufspannt „Walzer für Niemand“, das Lied, das die Schweizerin Sophie Hunger vor mehr als 20 Jahren schrieb, ist ein trauriger Song über die Abwesenheit eines geliebten Menschen, mit dem die Erzählerin noch immer eine Art Beziehung führt. „Walzer für Niemand“, der Roman, ist die Geschichte zwischen einer Ich-Erzählerin und ihrem Freund namens Niemand, zwei Diplomatenkinder zwischen Umzügen in andere Länder, Klavierunterricht und Schulausflügen mit lästigen Klassenkameraden. Bis sie eines Tages eine Plattensammlung und damit die ganze Welt finden. Bruce Springsteen spricht nur zu ihnen, Nina Simone ist ihre beste Freundin und die Platte mit den Walgesängen übermittelt Botschaften aus einer fernen Welt. Die Musik, der heilige Lebensraum. „Wir brauchten Sätze, und zwar solche, die sich verhielten wie Sprungbretter oder Abschussrampen. Sätze, die man vor sich hinlegen konnte, um auf sie hinaufzusteigen und dann, mehrere Meter erhöht, in Sicherheit, durchzuatmen und die Weitsicht zu genießen. Wir brauchten Sätze, die einsetzten wie plötzlicher Regen, ein Anpfiff oder Husten“, schreibt Hunger. „Ein Lied durfte nicht abgebrochen werden, selbst unter größten Qualen nicht“, lautet eine Regel der rigorosen Teenager. Diese Liebe zur Musik wird zum lebenserhaltenden, sinnstiftenden Element im Leben der Freunde. Aber irgendwann trennen sich ihre Wege. Die Erzählerin wird selbst Musikerin, Niemand verschwindet. Beides, Roman und Song, so könnte man großzügig zusammenfassen, sind Variationen über das zwischenzeitliche Zusammen- und dann das Alleinsein. „Ein Songtext ist eine Verdichtung auf drei Minuten, ein paar wenige Worte. Der Roman ist mehr, aber immer noch eine Verdichtung. Vielleicht wie ein Fächer, den ich aufspanne. In dieser Falte finde ich noch dies und hier noch das“, sagt Sophie Hunger in Zürich. „Das Wasser kommt dabei aus derselben Quelle. Auch wenn es dann woanders lang fließt“. Die Frage nach dem Warum erübrigt sich also mit diesem Satz. Für sie muss sich das Romanschreiben vor allem angefühlt haben wie der Wechsel des Aggregatzustands ihres Niemand-Grundthemas, nicht wie das Betreten eines völlig anderen Wegs. Wenn man die Kunst so betrachtet, dann gibt es nur Themen, Motive, Geschichten, Atmosphären – die Darreichungsform ist zweitrangig. Eine gute Geschichte kann ein Song sein, oder ein Roman, eine Skulptur, ein Gemälde. Sophie Hunger hat sich in den vergangenen 15 Jahren fast keiner anderen Form so sehr gewidmet wie der Musik. Sie macht eine Mischung aus Blues, Jazz und Folk, wie auf ihren ersten Alben „Monday’s Ghost“ (2008) und „1983“ (2010). Es sei denn, sie macht gerade elektronischen Pop, wie auf „Molecules“ (2020), dem man ihren Umzug nach Berlin anmerkt. Oder es ist gerade Pandemie und sie tut sich zusammen mit den Schweizer Musikern Faber und Dino Brandão und schreibt ein herzzerreißend schönes Folk-Album auf Schwyzerdütsch mit dem Titel „Ich liebe Dich“. Es ist nicht ganz einfach, Genre-Grenzpflöcke um ihr musikalisches Werk zu schlagen, sie lässt sich nie ganz greifen. Was ihre Musik aber immer ist: aufregend. Und, wie man auf Englisch sagen würde: haunting. So eindringlich, dass es einen verfolgt. Ihre Konzerte sind das auch, die spielt sie mit beeindruckender Ernsthaftigkeit und kann Stimmungen beliebig hinauf- und hinunterdimmen. Ihre Anhänger verehren sie dafür wie eine Heilige der Schweizer Alpen, herabgestiegen zwar, aber doch nicht ganz von dieser Welt. Zurück zum Lindenhof über Zürich: Eine Bank weiter posieren ein paar Touristen für Fotos. Der Himmel ist grau, das wird nicht allzu frühlingshaft aussehen. Sophie Hunger ist davon nicht abgelenkt. Sie geht mit dem Buch demnächst auf Konzertlesung, es soll ein Abend werden, an dem sich Musik und Romantext abwechseln. Nur zu lesen, erschien ihr komisch. „Literatur ist total immateriell, sie hat keinen Körper, es ist zum Verrücktwerden.“ Dass Musik hingegen etwas besonders Körperliches sei, erleben wohl vor allem die, die sie machen: „Du dachtest, die Stimme komme aus dem Herzen“, schreibt sie im Roman. „Ich dachte, sie komme aus verschiedenen Bereichen des Bauchraums und der darunterliegenden Gebiete (...). Ein Teil tauchte auf aus den Mulden der Nieren, ein anderer aus dem Gangsystem der Speicheldrüse. Weitere Teile erreichten den Bauchraum über die Fußnägel und das Geschlecht.“ Sophie Hunger macht nicht nur viel Musik, sondern auch viel Sport. Basketball, Joggen, Skifahren, der Körper muss raus in die Natur, an den Berg, in die Luft. Da werde einem doch erst bewusst, dass man einen Körper habe, sagte sie einmal. Diese Wahrnehmung des Lebens als vornehmlich körperliche Erfahrung führt nun direkt zu den Walsern. Mit denen muss man sich kurz beschäftigen, denn sie spielen im Roman eine nicht unbedeutende Rolle. Die Walser sind eine alemannische Volksgruppe, die sich im 8. und 9. Jahrhundert im Alpenraum auf unwirtlichen Höhen niederließ, „dort, wo die Luft so dünn ist, dass das Atmen schmerzt, wo jedes Wort, jeder ausgestoßene Stimmenlaut einem Kraftakt gleichkommt. Jenes Urvolk, welches nicht Feuer, sondern Eis verehrt“, schreibt Hunger. Deren Bräuchen und Mythen widmet sie im Roman eigene Kapitel, die parallel zur Erzählung laufen, auch die Protagonistin ist Walserin. Hunger sagt, sie fasziniere die Vorstellung, wie die allerletzte Walserin eines Tages vom Berg heruntersteige, weil der letzte Schnee geschmolzen sei. Wie sich das Mystische mit der normalen Welt verbinden muss, weil ein Lebensraum verloren geht. Sie stamme selbst von den Walsern aus dem Safiental in Graubünden ab, sagt sie, was, wenn man sie trifft, plötzlich absolut Sinn ergibt. Die Stärke, die von ihr ausgeht, das Zähe, diese unbestimmte Aura. „Ich fand das so herzzerreißend schön, dass es Leute gibt, die sich gesagt haben: Von allen Orten, an denen wir leben können, gehen wir da hoch! Diese Widerstandskraft, diese Vitalität, das am Leben festhalten.“ Der eigene Urgroßvater, der habe noch so gelebt, fernab auf einem Berg. Als er starb, seien die Walser aus den entferntesten Siedlungen gekommen, um sich von ihm zu verabschieden, als er aufgebahrt in seinem Walser-Haus lag. Die Genügsamkeit in absoluter Kargheit. Sie selbst, sagt Hunger, sei eher getrieben. In Unrast. Jemand, der sich schwer festlegen könne auf einen Ort. Sie lebt in Zürich, in Berlin, ihre musikalischen Freunde sind in Paris. Walserin sein ist mehr ein Körpergefühl als ein Ort Was verbindet sie dann noch mit den Walserinnen? „Ich laufe einen Marathon, es sind noch fünf Kilometer und ich kann nicht mehr“, sagt sie. „Dann besinne ich mich auf die Urkraft dieser Menschen am Hang – bei Minus 15 Grad, ohne Funktionskleidung. Natürlich kann ich den Marathon zu Ende laufen.“ Ihre Mutter, von der das Walser-Erbe kommt, habe diese Geschichten ihren Kindern erzählt. „Sie hat meiner Schwester und mir beigebracht, wenn wir auf der Straße gehen und ein Mann kommt uns entgegen, dürfen wir nicht ausweichen. Wir haben unseren Weg und den gehen wir. ‚Ihr seid Walserinnen‘.“ Walserin sein ist für sie also mehr ein Körpergefühl als ein Ort, eine eingeschriebene Kraft, auf die sie sich verlassen kann, bei aller Rastlosigkeit. In „Walzer für Niemand“ trennen sich die Wege der Protagonistin und Niemands in dem Moment, in dem sie erwachsen werden und die Erzählerin beginnt, Konzerte zu spielen. Die Freundschaft wird eine „besorgniserregende Schicksalsgemeinschaft“, eine pathetisch aufgeladene Verbindung, die andere Beziehungen fast unmöglich macht. Der Bruch ist also unvermeidbar. Immer liest bei der Autorin Sophie Hunger auch die Songschreiberin Sophie Hunger heraus. Ihre Sprache ist lyrisch, oft rhythmisch, metaphorisch. Mehr Atmosphäre als dramaturgisch aufgebaute Geschichte. Wer diese oder dieser Niemand ist, im Song und im Roman, ob es eine Freundschaft ist oder doch eine Liebesbeziehung, bleibt auch rätselhaft. Sophie Hunger danach in Zürich zu fragen, wäre aussichtslos. Es ist aber auch egal. Niemand ist dieser eine Mensch, der wortlos versteht. „Am Anfang war nicht das Wort“, schreibt sie im Roman, „am Anfang war der Hunger.“ Sophie Hunger lacht noch einmal laut zum Abschied und geht eilig davon. Nun ist es doch etwas kalt geworden.
Der Schnee ist nicht mehr da. Dabei hätte sich Sophie Hunger gern zum Spaziergang in einer winterlichen Landschaft getroffen. Oder eben in der Großstadtversion davon. Es ist Ende Februar, aber schon warm genug in Zürich, dass man sich auf einer Bank sitzend draußen unterhalten kann. Über Sophie Hungers neuen Roman, über ihre Musik und über das Alpenvolk der Walser. Zu denen wird später noch einiges zu erklären sein, weil sie eine große Rolle in Hungers Leben spielen. Der Lindenhof ist ein beliebter Aussichtspunkt mit Blick hinunter in die Altstadt über die Limmat und hinauf zur ETH, zur renommierten Eidgenössischen Technischen Hochschule, an der, das wird Sophie Hunger sagen, sich in Zürich die wirklich aufregenden Dinge abspielen. Große Erfindungen würden dort wahrscheinlich genau in diesem Moment gemacht.
Sophie Hunger, 41, protestiert nicht, wenn man auch sie als Erfinderin bezeichnet. Dabei wäre die herkömmliche Berufsbezeichnung wohl eher Künstlerin, Musikerin, Songschreiberin. Eine herausragende noch dazu. Labels, die immer auch gewisse Erwartungen ans Œuvre mit sich bringen, die interessierten sie nicht.
Damit hat man erst einmal keine Antwort auf die Frage, warum die Musikerin Sophie Hunger jetzt einen Roman geschrieben hat. „Walzer für Niemand“ heißt er, wie einer ihrer markantesten Songs. Nicht wegen des Schriftstellerinnen-Labels also. „Musiker“, sagt sie, „sagen über sich oft, sie schreiben immer dasselbe Lied in verschiedenen Varianten. Ohne beantworten zu wollen, ob das so ist, bei mir ist vielleicht ‚Walzer für Niemand‘ ein Grundmuster. Was wäre also, wenn ich diesen Song reinterpretieren würde als Roman?“ Das habe sie sich gefragt. Sophie Hunger trägt eine Sonnenbrille mit hellen Gläsern, obwohl keine Sonne scheint. In frühen Fernsehinterviews wirkte sie oft gequält, ihr Blick unangenehm lang in die Leere gerichtet. Davon ist heute kaum mehr etwas zu spüren, sie ist präsent und lacht. Eine große Frau, die den Eindruck vermittelt, jederzeit zu einer Wanderung aufbrechen zu können.
Ein Song ist die Verdichtung auf drei Minuten, ein Roman wie ein Fächer, den sie aufspannt „Walzer für Niemand“, das Lied, das die Schweizerin Sophie Hunger vor mehr als 20 Jahren schrieb, ist ein trauriger Song über die Abwesenheit eines geliebten Menschen, mit dem die Erzählerin noch immer eine Art Beziehung führt. „Walzer für Niemand“, der Roman, ist die Geschichte zwischen einer Ich-Erzählerin und ihrem Freund namens Niemand, zwei Diplomatenkinder zwischen Umzügen in andere Länder, Klavierunterricht und Schulausflügen mit lästigen Klassenkameraden. Bis sie eines Tages eine Plattensammlung und damit die ganze Welt finden. Bruce Springsteen spricht nur zu ihnen, Nina Simone ist ihre beste Freundin und die Platte mit den Walgesängen übermittelt Botschaften aus einer fernen Welt. Die Musik, der heilige Lebensraum.
„Wir brauchten Sätze, und zwar solche, die sich verhielten wie Sprungbretter oder Abschussrampen. Sätze, die man vor sich hinlegen konnte, um auf sie hinaufzusteigen und dann, mehrere Meter erhöht, in Sicherheit, durchzuatmen und die Weitsicht zu genießen. Wir brauchten Sätze, die einsetzten wie plötzlicher Regen, ein Anpfiff oder Husten“, schreibt Hunger. „Ein Lied durfte nicht abgebrochen werden, selbst unter größten Qualen nicht“, lautet eine Regel der rigorosen Teenager. Diese Liebe zur Musik wird zum lebenserhaltenden, sinnstiftenden Element im Leben der Freunde. Aber irgendwann trennen sich ihre Wege. Die Erzählerin wird selbst Musikerin, Niemand verschwindet. Beides, Roman und Song, so könnte man großzügig zusammenfassen, sind Variationen über das zwischenzeitliche Zusammen- und dann das Alleinsein.
„Ein Songtext ist eine Verdichtung auf drei Minuten, ein paar wenige Worte. Der Roman ist mehr, aber immer noch eine Verdichtung. Vielleicht wie ein Fächer, den ich aufspanne. In dieser Falte finde ich noch dies und hier noch das“, sagt Sophie Hunger in Zürich. „Das Wasser kommt dabei aus derselben Quelle. Auch wenn es dann woanders lang fließt“. Die Frage nach dem Warum erübrigt sich also mit diesem Satz. Für sie muss sich das Romanschreiben vor allem angefühlt haben wie der Wechsel des Aggregatzustands ihres Niemand-Grundthemas, nicht wie das Betreten eines völlig anderen Wegs. Wenn man die Kunst so betrachtet, dann gibt es nur Themen, Motive, Geschichten, Atmosphären – die Darreichungsform ist zweitrangig. Eine gute Geschichte kann ein Song sein, oder ein Roman, eine Skulptur, ein Gemälde.
Sophie Hunger hat sich in den vergangenen 15 Jahren fast keiner anderen Form so sehr gewidmet wie der Musik. Sie macht eine Mischung aus Blues, Jazz und Folk, wie auf ihren ersten Alben „Monday’s Ghost“ (2008) und „1983“ (2010). Es sei denn, sie macht gerade elektronischen Pop, wie auf „Molecules“ (2020), dem man ihren Umzug nach Berlin anmerkt. Oder es ist gerade Pandemie und sie tut sich zusammen mit den Schweizer Musikern Faber und Dino Brandão und schreibt ein herzzerreißend schönes Folk-Album auf Schwyzerdütsch mit dem Titel „Ich liebe Dich“. Es ist nicht ganz einfach, Genre-Grenzpflöcke um ihr musikalisches Werk zu schlagen, sie lässt sich nie ganz greifen. Was ihre Musik aber immer ist: aufregend. Und, wie man auf Englisch sagen würde: haunting. So eindringlich, dass es einen verfolgt. Ihre Konzerte sind das auch, die spielt sie mit beeindruckender Ernsthaftigkeit und kann Stimmungen beliebig hinauf- und hinunterdimmen. Ihre Anhänger verehren sie dafür wie eine Heilige der Schweizer Alpen, herabgestiegen zwar, aber doch nicht ganz von dieser Welt.
Zurück zum Lindenhof über Zürich: Eine Bank weiter posieren ein paar Touristen für Fotos. Der Himmel ist grau, das wird nicht allzu frühlingshaft aussehen. Sophie Hunger ist davon nicht abgelenkt. Sie geht mit dem Buch demnächst auf Konzertlesung, es soll ein Abend werden, an dem sich Musik und Romantext abwechseln. Nur zu lesen, erschien ihr komisch. „Literatur ist total immateriell, sie hat keinen Körper, es ist zum Verrücktwerden.“
Dass Musik hingegen etwas besonders Körperliches sei, erleben wohl vor allem die, die sie machen: „Du dachtest, die Stimme komme aus dem Herzen“, schreibt sie im Roman. „Ich dachte, sie komme aus verschiedenen Bereichen des Bauchraums und der darunterliegenden Gebiete (...). Ein Teil tauchte auf aus den Mulden der Nieren, ein anderer aus dem Gangsystem der Speicheldrüse. Weitere Teile erreichten den Bauchraum über die Fußnägel und das Geschlecht.“ Sophie Hunger macht nicht nur viel Musik, sondern auch viel Sport. Basketball, Joggen, Skifahren, der Körper muss raus in die Natur, an den Berg, in die Luft. Da werde einem doch erst bewusst, dass man einen Körper habe, sagte sie einmal.
Diese Wahrnehmung des Lebens als vornehmlich körperliche Erfahrung führt nun direkt zu den Walsern. Mit denen muss man sich kurz beschäftigen, denn sie spielen im Roman eine nicht unbedeutende Rolle. Die Walser sind eine alemannische Volksgruppe, die sich im 8. und 9. Jahrhundert im Alpenraum auf unwirtlichen Höhen niederließ, „dort, wo die Luft so dünn ist, dass das Atmen schmerzt, wo jedes Wort, jeder ausgestoßene Stimmenlaut einem Kraftakt gleichkommt. Jenes Urvolk, welches nicht Feuer, sondern Eis verehrt“, schreibt Hunger. Deren Bräuchen und Mythen widmet sie im Roman eigene Kapitel, die parallel zur Erzählung laufen, auch die Protagonistin ist Walserin. Hunger sagt, sie fasziniere die Vorstellung, wie die allerletzte Walserin eines Tages vom Berg heruntersteige, weil der letzte Schnee geschmolzen sei. Wie sich das Mystische mit der normalen Welt verbinden muss, weil ein Lebensraum verloren geht.
Sie stamme selbst von den Walsern aus dem Safiental in Graubünden ab, sagt sie, was, wenn man sie trifft, plötzlich absolut Sinn ergibt. Die Stärke, die von ihr ausgeht, das Zähe, diese unbestimmte Aura. „Ich fand das so herzzerreißend schön, dass es Leute gibt, die sich gesagt haben: Von allen Orten, an denen wir leben können, gehen wir da hoch! Diese Widerstandskraft, diese Vitalität, das am Leben festhalten.“ Der eigene Urgroßvater, der habe noch so gelebt, fernab auf einem Berg. Als er starb, seien die Walser aus den entferntesten Siedlungen gekommen, um sich von ihm zu verabschieden, als er aufgebahrt in seinem Walser-Haus lag. Die Genügsamkeit in absoluter Kargheit. Sie selbst, sagt Hunger, sei eher getrieben. In Unrast. Jemand, der sich schwer festlegen könne auf einen Ort. Sie lebt in Zürich, in Berlin, ihre musikalischen Freunde sind in Paris.
Walserin sein ist mehr ein Körpergefühl als ein Ort Was verbindet sie dann noch mit den Walserinnen? „Ich laufe einen Marathon, es sind noch fünf Kilometer und ich kann nicht mehr“, sagt sie. „Dann besinne ich mich auf die Urkraft dieser Menschen am Hang – bei Minus 15 Grad, ohne Funktionskleidung. Natürlich kann ich den Marathon zu Ende laufen.“ Ihre Mutter, von der das Walser-Erbe kommt, habe diese Geschichten ihren Kindern erzählt. „Sie hat meiner Schwester und mir beigebracht, wenn wir auf der Straße gehen und ein Mann kommt uns entgegen, dürfen wir nicht ausweichen. Wir haben unseren Weg und den gehen wir. ‚Ihr seid Walserinnen‘.“ Walserin sein ist für sie also mehr ein Körpergefühl als ein Ort, eine eingeschriebene Kraft, auf die sie sich verlassen kann, bei aller Rastlosigkeit.
In „Walzer für Niemand“ trennen sich die Wege der Protagonistin und Niemands in dem Moment, in dem sie erwachsen werden und die Erzählerin beginnt, Konzerte zu spielen. Die Freundschaft wird eine „besorgniserregende Schicksalsgemeinschaft“, eine pathetisch aufgeladene Verbindung, die andere Beziehungen fast unmöglich macht. Der Bruch ist also unvermeidbar. Immer liest bei der Autorin Sophie Hunger auch die Songschreiberin Sophie Hunger heraus. Ihre Sprache ist lyrisch, oft rhythmisch, metaphorisch. Mehr Atmosphäre als dramaturgisch aufgebaute Geschichte.
Wer diese oder dieser Niemand ist, im Song und im Roman, ob es eine Freundschaft ist oder doch eine Liebesbeziehung, bleibt auch rätselhaft. Sophie Hunger danach in Zürich zu fragen, wäre aussichtslos. Es ist aber auch egal. Niemand ist dieser eine Mensch, der wortlos versteht. „Am Anfang war nicht das Wort“, schreibt sie im Roman, „am Anfang war der Hunger.“ Sophie Hunger lacht noch einmal laut zum Abschied und geht eilig davon. Nun ist es doch etwas kalt geworden.
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