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Die dunklen Ecken der Erinnerungskultur
Deutschland, so stellt Wolfgang Benz fest, hat eine Erinnerungskultur hervorgebracht, für die es „sich von aller Welt feiern lässt“. Die skeptische Formulierung legt schon nahe, was folgt in seinem Buch über die „Zukunft der Erinnerung“, in der der Historiker die Bemühungen bilanziert, mit deren Hilfe Deutschland seit 1945 versucht hat, der Erblast von Diktatur, Massenmord und Kulturbruch einigermaßen gerecht zu werden. Es ist eine phasenweise erfrischend zornig vorgetragene Mängelliste, von der Kolonialzeit über die NS-Gewaltherrschaft bis zur DDR-Geschichte, wo Erinnerung sich laut Benz in Nostalgie und „schaurigen Attraktionen des Fremdenverkehrs“ erschöpft. Ein „reflektierter Umgang“ mit den Gründungsmythen und Zielen der DDR habe eher nicht stattgefunden, wie auch die „beispiellose Leistung“ der DDR-Bürger 1989 verschwunden sei unter „westlicher Arroganz“. Die sich verschärfende „politische Radikalisierung rechts außen“ steht für Benz auch „für den späten Verdruss, der aus dem Gefühl der Niederlage durch die Wende“ entstanden sei.
Schwerpunkt bildet aber das Gedenken an die NS-Zeit, Benz gehört da zu den international anerkannten Fachleuten, insofern mag man das Buch auch als eine durchaus ambivalente Bilanz dessen auffassen, was ein Einzelner erreichen kann. Benz selbst hat maßgeblich daran mitgewirkt, dass aus der „übellaunigen Vergangenheitsbewältigung“ der Nachkriegszeit überhaupt so etwas wie eine Erinnerungskultur werden konnte. Er begleitete die Einrichtung mehrerer KZ-Gedenkstätten, hat Zeitzeugen befragt, publiziert, geforscht, aufgerüttelt. Von 1990 bis 2011 lehrte er an der Technischen Universität Berlin Zeitgeschichte und leitete dort das Zentrum für Antisemitismusforschung. Er ist Träger des Geschwister-Scholl-Preises.
Täter und Opfer verkommen zu „wucherndem Kitsch“
Benz nennt positive Beispiele wie das Jüdische Museum in Berlin als eine vom „großen Publikum dankbar angenommene Institution der Erinnerungskultur“. Ausführlicher aber kritisiert er die „Inszenierungen“ und das „moralisierende Pathos, das den öffentlichen Umgang mit deutscher Vergangenheit“ kennzeichne. Er prangert deutsche Selbstgefälligkeit und Selbsttäuschung an, die Ritualisierung und Bürokratisierung zeremoniellen Gedenkens. Geschäftige Routine trete an die Stelle von Kontextualisierung, zunehmend auch Phrasen und Trivialisierung, bis hin zum „wuchernden Kitsch“, seit Guido Knopp sei Zeitgeschichte ein „eingängiges Unterhaltungsformat“. Schicksale der Opfer und Täter würden von mehr oder minder berufener Seite auf ihren Unterhaltungswert hin abgeklopft, leider erweise sich die Imagination im medialen Verkaufsgeschäft der Realität oft als überlegen. Sachkenntnis sei etwa in der gegenwärtigen Debatte zum Antisemitismus „nicht besonders gefragt“, dafür Meinungsstärke und „Leidenschaft aus frommer Gesinnung“.
Eifer und Expertise sind oft ungleich verteilt
Der spanische Politologe Manuel Arias Maldonado hat beizeiten eine grassierende Sentimentalisierung der Politik in der westlichen Welt diagnostiziert. Dazu passt Benz‘ Analyse der aktuellen Palästina-Debatte. Aktivisten träten auf den Plan, deren Eifer nicht immer im Einklang mit ihrer Expertise stehe. Unerwünschte Debatten würden verhindert.
Inzwischen manifestiere sich die nach wie vor bestehende „Unsicherheit im Umgang mit dem Nationalsozialismus in verbalem und kontraproduktivem Übereifer“ und „in den Stilblüten der Political Correctness“. Die Gefahr dabei laut Benz: Während nach außen hin gönnerhafte Attitüde an den Tag gelegt werde, keimten unter der Oberfläche weiterhin die alten Ressentiments, sprich der Antisemitismus. Er warnt vor der Gefahr der „Austauschbarkeit der Stigmatisierung von Gruppen“, was heißen soll: So wie es früher die jüdische Minderheit traf, kann es nun andere treffen.
Die NS-Herrschaft kam ja nicht von einem anderen Stern
Immer wieder betont der Historiker, dass die deutsche Gesellschaft sich von allen anderen Nationen eben dadurch unterscheide, „dass sie zum erheblichen Teil aus Nachkommen der Täter“ besteht. Deshalb könne es „im Umgang mit Judenmord keine Unbefangenheit geben“. Und er erinnert daran, dass die NS-Herrschaft ja schließlich nicht von einem anderen Stern kam, sondern auf die „Ekstase der Mehrheit der Beherrschten“ zurückging, „aus dem Anspruch der deutschen Nation auf Weltgeltung“ erwuchs. Daran seien auch mehr als drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene zugrunde gegangen, woran sich kaum jemand erinnern wolle. Wie sehr das „Nie wieder“ in Deutschland wirkungslose Zeremonie geblieben ist, spürt man besonders jetzt, so könnte man Benz‘ Ausführungen ergänzen, da die Hybris, ein Krieg gegen Russland sei zu gewinnen, es bis ins Kanzleramt geschafft hat.
Woran es bei der Schaffung einer wirklichen Erinnerungskultur gehapert haben mag, wird bei der Lektüre eines weiteren Buchs zu dem Thema deutlich. Trauma- und Stressexperte Louis Lewitan, Sohn von Holocaust-Überlebenden, und der Journalist Stephan Lebert fragen sich in „Der blinde Fleck“, was die meisten Deutschen über die Rolle ihrer Familien in den Jahren 1933 bis 1945 wissen. Die Antwort ist vorhersehbar: nichts oder sehr wenig. Damit benennen sie eines der eklatanten Probleme der deutschen Erinnerungskultur, die auf institutioneller und akademischer Ebene durchaus Vorbildcharakter beanspruchen mag, in den Familien aber nie angekommen ist. Dort regierte jahrzehntelang das Schweigen, erst die nun alternde Boomer-Generation hat begonnen, die dunklen Ecken auszuleuchten, wenn auch eher auf der Suche nach dem Urgrund eigener Lebensdefizite. Warum tun sie das erst jetzt, nachdem die meisten Protagonisten verstorben sind? „Weil sie keine Konfrontation mit den Großeltern oder Eltern mehr fürchten müssen“, antworten die Autoren fest – mithin aus Feigheit.
In den Familien wurde meist geschwiegen zur NS-Zeit
Lebert lässt die wachsende Zahl von Veröffentlichungen zu dem Thema Revue passieren, interviewt den Ex-Minister und die frühere stellvertretende Regierungssprecherin, aber auch ziemlich willkürlich Leute, die er an der Ladentheken oder Werkstatt mit der Frage überfällt, was sie von der Rolle ihrer Vorväter wissen. Lewitan ordnet die Ergebnisse dann psychologisch ein. Was bedeutet es für das eigene Leben – und das der weiteren Nachkommen -, wenn man von Tätern, Komplizen, Handlangern, Mitläufern und Opportunisten abstammt? Das Wissen darüber komme dem Öffnen eines Giftschranks gleich, stellt er fest, doch Erzählen sei gleichzeitig das therapeutisch wirksame Gegengift.
Das Buch liest sich wie ein Aufruf, den endemischen „Unwillen zur Trauer“ endlich zu überwinden. Was aber tun, wenn dabei nicht so eindeutige Profile zutage treten wie in der Vorfahrenschaft vieler Protagonisten des Buches? Was anfangen mit unvollständigen Zeugnissen des Durchwurstelns und Überlebenwollens, mit schwer begreifbaren Dissonanzen und Ambivalenzen, auf die man wahrscheinlich stoßen wird? Wohin führt diese Art privater Ahnenforschung ohne die von Benz geforderte sachkundige historische Kontextualisierung? Wenigstens darf man sicher sein, damit zur Füllung der Lücken in der deutschen Erinnerungskultur beigetragen zu haben, merken Lebert und Lewitan nicht ohne pädagogischen Impetus an: „Wenn sich die Nachfahren der Täter, Mittäter, Komplizen und Zeugen heute der Vergangenheit stellen, übernehmen sie Verantwortung dafür, dass sich diese nicht wiederholt.“ Hoffen wir’s.