Vollständige Rezension anzeigen
Ein Strich für einen sicheren Ort
In der Psychotherapie gibt es eine Übung, bei der man sich an einen „sicheren Ort“ imaginiert, er kann real sein oder erfunden und soll Geborgenheit vermitteln. „Für mich war und ist dieser Ort der Charles Clore Beach in Tel Aviv“, sinniert eine junge Frau, die sich Lilly nennt. Über der schlafenden Lilly hat Moritz Stetter in seinem Kurzcomic ein sonnengelbes Strandidyll gezeichnet – das nach nur zwei Panels von einer glutroten Fläche mit dicken schwarzen Rauchschwaden-Strichen verdrängt wird. Lilly schläft jetzt nicht mehr, sie wird von ihren Grübeleien fast erdrückt: „Wenn ich meinen sicheren Ort nun in der Imagination besuche, empfinde ich keine Ruhe und Frieden mehr.“
Lilly heißt eigentlich anders, sie ist Jüdin und lebt in Deutschland. Nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hatte der Comiczeichner Moritz Stetter seine Bekannte gefragt, wie es ihr gehe. Lillys Antwort ist so schlicht wie erschütternd und wird von Stetter auch so illustriert: „Ich merke, dass ich ängstlicher werde im Umgang mit Menschen.“ – „Vor Kurzem bat ich meinen Freundeskreis, nicht mehr zu erwähnen, dass ich jüdisch bin.“ Einen Konzertbesuch bricht sie ab, nachdem auf der Bühne propalästinensische Kampfrufe ertönen. Das ist flammend rot gezeichnet, Lilly darin als weiße, von schwarzen Strichen zusammengehaltene Figur: eine, die anders ist, sich wie im Spotlight fühlt.
Da ist etwa die jesidisch-deutsche Performancekünstlerin und Migrationsforscherin Jacqueline Saki Aslan, die der Comiczeichnerin Eva Müller („Scheiblettenkind“) ihr Gedicht „Ein Bauchgefühl“ schickt. Müller hat es als eindrucksvolle Mischung aus Superheldencomic und surrealem Traum illustriert: Eine stilisierte junge Frau, die Aslan ähnlich sieht, fliegt darin wie ein Luftballon zwischen Hochhäusern über der Stadt. Was erst wie ein luftiger Spaß aussieht, endet mit der Spiegelung glutrot detonierender Bomben in den Pupillen der jungen Frau. Und der Bemerkung: „Mit meinem großen weichen Bauch. Fange ich jede Patrone ab.“
„Wie geht es dir?“ ist ein Wimmelbuch, ganz und gar unübersichtlich – das ist seine Qualität
Ins Leben gerufen hatte das Projekt eine Reihe bekannter Comiczeichnerinnen im Januar 2024, darunter Hannah Brinkmann („Zeit heilt keine Wunden“), Birgit Weyhe („Rude Girl“, „Madgermanes“) und Barbara Yelin („Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung“). Die Gespräche wurden auf jeweils einer Comicseite illustriert, die Kurzcomics wöchentlich auf Instagram und der Webseite www.wiegehtesdir-comics.de veröffentlicht. Jetzt erscheinen die gesammelten Zeugnisse als Buch
Unter den Befragten sind persönliche Bekannte der Zeichnerinnen, aber auch öffentliche Personen wie der deutsch-israelische Autor und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, oder die Autorin und Frauenrechtlerin Seyran Ateş. Es sind viele Stimmen und Standpunkte, die so zu Wort kommen. „Wie geht es dir?“ ist ein Wimmelbuch, ganz und gar unübersichtlich – das ist seine Qualität. Es unterscheidet das Projekt von vielen anderen Arbeiten, mit denen Zeichner auf die eskalierende Gewalt im Nahen Osten reagiert haben, die auch in der Comicszene Gräben aufgerissen hat.
Wenn etwa der berühmte Comicjournalist Joe Sacco („Palästina“) in der Zeitschrift New York Review of Books mit dem legendären „Maus“-Autor Art Spiegelman im Kurzcomic „Never Again and Again“ (Nie wieder und wieder) den Krieg kommentiert, zeigt schon das erste Panel, auf welcher Seite die beiden stehen: Ein grüngesichtiger Netanjahu erscheint da als vampirhafte Gestalt (ein bekannter antisemitischer Topos) und steht mit blutigen Händen, im blutbespritzten Anzug bis zur Taille in Augäpfeln. „Die Bibel sagt Auge um Auge“, kommentiert der gezeichnete Sacco, woraufhin der Comic-Spiegelman entgegnet, Netanjahu sei aber ein Overachiver.
Von solcher Drastik und Polarisierung wollen die Beteiligten von „Wie geht es dir?“ nichts wissen. Die deutsche Jüdin, die sich in Deutschland nicht mehr sicher fühlt, kommt ebenso zu Wort wie der ebenfalls in Deutschland lebende palästinensische Musiker, der nach dem 7. Oktober kaum noch Konzerte geben kann: „Ich spiele arabische Musik“, sagt der Mann, der sich Nazim nennt (auch das ein Pseudonym). „Das ist vielen Spielstätten aber zu riskant. Die Musik selber ist politisch geworden.“ Er werde angefragt, mit israelischen Musikern auf sogenannten „Peace events“ zu spielen. „Wenn ich nicht teilnehme, befürchte ich, dass mir unterstellt wird, keinen Frieden zu wollen. Ich spiele gern mit israelischen Musikern. Es ist allerdings schwer, wenn ich das Gefühl habe, nichts zur Dynamik im Nahen Osten sagen zu dürfen.“ So schlägt gut gemeintes Engagement in Ausgrenzung um.
Es sind viele Namen, Gesichter und Geschichten – und so viele Zeichenstile! Viele davon erkennt man sofort wieder, die verschatteten Aquarelle von Barbara Yelin zum Beispiel. Die Münchner Zeichnerin hat mit „Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung“ über eine Holocaust-Überlebende ein wuchtiges Stück Erinnerungskultur geschaffen und spricht nach dem 7. Oktober erneut mit ihrer Protagonistin. Die Nachricht vom Massaker hatte Emmie Arbel ausgerechnet in der Gedenkstätte Ravensbrück erreicht, von wo aus sie dann zunächst nicht heimreisen kann. Emmie war dort als Kind im Konzentrationslager, spricht einmal im Jahr als Zeitzeugin in der Gedenkstätte. „Es ist verrückt, dass ich mich gerade an diesem Ort sicher fühle“, schreibt sie. Aber Emmie will zurück: „Es ist nicht sicher in Israel. Und trotzdem ist es für mich der beste Ort.“ Wer Israel einfach ausradieren will von der Landkarte, sollte zuerst Menschen wie Emmie zuhören.
Mit wenigen Ausnahmen haben alle wichtigen deutschen Comiczeichnerinnen und -zeichner mitgemacht: Reinhard Kleist ist dabei, Flix, Simon Schwartz und natürlich die Initiatorinnen. „Wie geht es dir?“ ist ein politisch wie ästhetisch starkes Statement der deutschen Comic-Kunst: gegen den Hass, gegen ideologische Vereinfachung, für das Miteinander-Reden, Einander-Zuhören.
Dabei sind naturgemäß nicht alle Beiträge gleich erhellend oder künstlerisch geglückt. Gerade in der Buchform aber vermittelt sich die Vielstimmigkeit des Projekts, seine vielen Standpunkte und Ausdrucksformen, als besonderer Wert. Und wer die Forderung nach einem Dialog naiv findet, soll Alternativen nennen. „Sich vorzustellen, dass Frieden möglich ist, war noch nie so schwer wie jetzt“, sagt einer der Befragten. „Und dennoch... Wie kann jeder von uns dort wie hier, Frieden stiften?“ Das Buch ist ein Baustein.