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Interview mit Stefan Klein: „Der innere Schweinehund ist ein irrer Mythos“. Empfohlen von Sara Peschke.
Ratgeberecke nannte man früher die Bereiche in Buchhandlungen, in denen praktische Lebenshilfe-Literatur zu finden war. Heute liegen diese Bücher auf den riesigen Tischen im Eingangsbereich. Besonders gerne die, die Hilfe dabei versprechen, wie man endlich etwas verändert im Leben. Auch Stefan Klein hat mit „Aufbruch“ nun ein Buch über Veränderung geschrieben – darüber, warum sie uns so schwerfällt und wie sie doch gelingen kann. Das Besondere daran: Es ist nicht die nächste Anleitung zur Selbstoptimierung des Einzelnen. Es nimmt vielmehr die Gesellschaft als Ganzes in die Pflicht.
SZ: Herr Klein, warum treibt das Bedürfnis nach Veränderung so viele Menschen um?
Stefan Klein: Weil die Menschheit weiß, dass sie sich verändern muss, sowohl individuell als auch gesellschaftlich – es aber nicht tut. Wir wissen, dass wir anders leben müssten, um das Klima zu schonen, um gesünder alt zu werden, um künstlicher Intelligenz aufgeklärt zu begegnen.
Stattdessen buchen wir doch wieder den nächsten Flug in den Kurzurlaub.
Was ist Ihre Erklärung dafür?
Es gibt zwei große psychologische Hürden für Veränderung: Überzeugungen und Gewohnheiten.
Helfen uns die aber im Alltag nicht auch sehr?
Ja, sie reduzieren Komplexität und erleichtern Entscheidungen. Sie fahren zum Beispiel seit Jahren mit dem Auto ins Büro und nehmen dafür immer dieselbe Strecke, weil Sie der Überzeugung sind, dass Sie so am schnellsten an Ihren Schreibtisch kommen. Andererseits ist aus dieser Überzeugung längst eine Gewohnheit geworden, die es Ihnen schwer macht, auf ein anderes Verkehrsmittel umzusteigen oder einen anderen Weg auszuprobieren. So schwer, dass es enormen Druck von außen braucht, um diese Routine aufzubrechen: eine Dauerbaustelle etwa, die Sie jeden Morgen im Stau schwitzen lässt.
Ergeben Gewohnheiten und Überzeugungen zusammen den berühmten inneren Schweinehund?
Der ist überhaupt ein irrer Mythos. Wussten Sie, dass der Begriff aus dem Nationalsozialismus stammt?
Nein.
Er fiel nachweislich zuerst im Berliner Reichstag 1932. Damals rief der junge sozialdemokratische Abgeordnete Kurt Schumacher: „Die ganze nationalsozialistische Agitation ist ein dauernder Appell an den inneren Schweinehund im Menschen!“ Schumacher meinte damit eine in jedem Menschen lauernde Macht, die uns selbst schadet und sich durch Lügen und Hassrede entfesseln lässt. Ein paar Wochen später lobte dann Reichswehrminister General von Schleicher junge Soldaten in einer Radioansprache: Sie hätten „ihrem Körper etwas Außerordentliches abgewonnen“ und „ihren inneren Schweinehund ganz besiegt“. Seitdem wird der innere Schweinehund synonym für Willensschwäche verwendet, auch wenn es jetzt nicht mehr darum geht, bis zum letzten Blutstropfen für Volk und Führer zu kämpfen, sondern bloß eine Runde joggen zu gehen, statt auf dem Sofa zu sitzen und Chips zu futtern.
Und was genau ist daran ein Mythos?
Dass innere Widerstände durch Grausamkeit gegenüber uns selbst bezwungen werden können, dieses Gerede vom Triumph des Willens. Aber Gewohnheiten unterliegen gerade nicht dem Willen. Je länger Sie beispielsweise jeden Tag dieselbe Strecke gefahren sind, desto weniger ist daran Ihr bewusster Wille beteiligt. Gewohnheiten folgen Auslösern, nicht Absichten, und das menschliche Gehirn tut sich so schwer damit, sie zu durchbrechen, weil es ein träges Organ ist. Es hält sehr gern an automatischen Handlungen fest, auch wenn sie uns schaden. Und beharrt auf Überzeugungen und Vorurteilen, obwohl die Realität längst eine andere ist. Das gestehen wir uns aber nicht gern ein.
Das Gehirn will den Status quo aus Faulheit nicht hergeben und betrügt sich lieber selbst?
Das hat ja auch Vorteile! Das Leben wäre viel zu anstrengend, wenn man über jede einzelne Entscheidung nachdenken müsste. Ohne Routinen und Denkmuster würden wir verrückt werden. Erstaunlicherweise fällt Veränderung oft leichter, wenn man sie gemeinsam angeht. Jeder Sportverein beruht darauf, dass sich Menschen als Gruppe zu Aktivitäten aufraffen, zu denen sie sich alleine nie motivieren könnten. Schon während des Zweiten Weltkriegs stellte sich in den USA heraus, dass Menschen ihre Ernährung viel leichter umstellen können, wenn sie es gemeinsam mit ihren Nachbarn tun. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass wir eine Kultur der Veränderung brauchen, nicht lauter Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfer.
Das wird die Selbstoptimierungsindustrie nicht freuen. Die behauptet doch gern, der einzige Weg zu Veränderung sei unablässige Arbeit an sich selbst, am besten von fünf Uhr morgens an.
Sicher, so kann man den vereinzelten und ratlosen Konsumenten Produkte verkaufen, mit denen die ersehnte Veränderung angeblich gelingt: teure Nahrungsergänzungsmittel etwa oder Smartwatches, die jeden Schritt tracken. Auch die Verursacher der Klimakrise haben durchaus ein Interesse daran, dass alle Last und Verantwortung auf die Individuen abgewälzt wird. Nur deshalb hat der britische Mineralölkonzern BP den Begriff CO₂-Fußabdruck in einer breit angelegten PR-Kampagne populär gemacht. Deren Marketingprofis wollten den Menschen weismachen: Ihr seid das Problem, nicht wir!
Sie schreiben in Ihrem Buch: „Eine Kultur der Veränderung malt die Welt nicht rosarot. Sie benennt die Gefahren. Doch die Bedrohung ist nicht das Ende, sondern der Ausgangspunkt ihrer Erzählung, die in die Frage mündet: Wie wollen wir leben?“ Im Moment verstehen viele Menschen diese Erzählung als eine, die von persönlichem Verzicht und einer ungewissen Zukunft handelt. Wie sollte sie stattdessen lauten? Und vor allem: Wer muss sie erzählen?
Alle, die Veränderung wollen. Nehmen wir die dringend benötigte ökologische Wende: Die Erzählung kann lauten, dass ein Leben mit weniger Ressourcenverbrauch ein besseres, glücklicheres und sichereres Leben sein wird als unser heutiges Chaos. Und diese Erzählung kann eben nicht nur von den Mächtigen ausgehen. Denn eine demokratisch gewählte Regierung muss Rücksicht auf Stimmungslagen in der Bevölkerung nehmen. In letzter Zeit gab es mehrere Fälle, in denen die Regierung in einer selbst gewünschten politischen Veränderung zurückrudern musste, weil sich die Stimmung in der Bevölkerung dagegen gerichtet hatte. Denken Sie an die unendliche Diskussion um die Wärmepumpe. Da wollte die Regierung eine durchaus sinnvolle Regulierung, konnte sie aber nicht durchsetzen, weil eine Mehrheit der Bevölkerung nicht veränderungswillig war.
Weil sie sich bevormundet fühlte und mit Verzicht und finanziellen Folgen rechnete.
Und weil es nicht gelungen ist, eine Erzählung von Aufbruch und Chance damit zu verknüpfen. Ähnliches gilt für das Verbot des Verbrennungsmotors bei Neuwagen, auch wenn hier zusätzlich starke Interessen der Autoindustrie hineinspielen. 65 Prozent aller Deutschen haben sich gegen diese Initiative der EU ausgesprochen, dabei ist sie sogar ökonomisch vernünftig, und das wissen auch viele dieser 65 Prozent.
Sind es nicht gerade diese Erzählungen „von oben“, die vielen Menschen als unglaubwürdig erscheinen?
Eben. Deshalb ist es wichtig, dass wir alle eine realistische Erzählung von einem Aufbruch in eine bessere Zukunft verbreiten. Es geht darum, sich gegenseitig zu informieren und Mut zu machen, um diesem diffusen Gefühl der Angst zu begegnen, das viele spüren, Angst angesichts der Einwanderung, der Allgegenwart immer mächtigerer Computer und der Alterung der Gesellschaft.
Angst ist das größte Hemmnis für Veränderung?
Weil sie uns lähmt. Wenn wir uns fürchten, werden im Gehirn die Weichen für Gefahrenabwehr gestellt. Manchmal antworten wir dann mit Aggressionen, manchmal flüchten wir, aber am häufigsten tun wir: gar nichts. Wir versuchen, den Schaden möglichst klein zu halten, indem wir nicht handeln.
Es sind genau die Ängste, mit denen Menschen wie Donald Trump spielen, oder?
Trump ist der mächtigste und zugleich veränderungsunwilligste Politiker der Welt. Er hat den Amerikanern eine Rückkehr zu „alten“ Verhältnissen versprochen – und seine Wahl erschien vielen Menschen auch aus einer neurologischen Sicht offenbar als besonders bequem: keine Veränderung, keine kognitive Arbeit.
Angst ist ja aber nicht nur das Resultat von Erzählungen, sondern auch von sehr konkreten Bedrohungen.
Natürlich ist Angst vor einer konkreten Bedrohung berechtigt. Aber ein großer Teil unserer Ängste sind diffus. Und wir sind gut beraten, uns von diffusen Angstszenarien zu befreien, indem wir den Realitätsgehalt von Wahrnehmungen und Überzeugungen als aufgeklärte Wesen immer wieder überprüfen. Das finnische Bildungssystem sieht vor, dass Kinder sehr früh lernen, Nachrichten in den Sozialen Netzwerken systematisch zu analysieren: Warum sagt da wer was und warum soll ich das glauben? Das ist extrem nützlicher Unterricht, denn der Verstand ist das mächtigste Werkzeug gegen gesteuerte Desinformation und um Filterblasen zu erkennen. Wenn wir uns der Stärke unseres Verstandes nicht bedienen, können wir uns als Gesellschaft nicht verändern, und dann erleben wir, was in den USA längst Realität ist: Jede Sachfrage wird zu einer Frage von Kulturkampf – und nichts bewegt sich mehr vorwärts.
Ein Fünftel der Deutschen hat bei der letzten Bundestagswahl eine demokratiefeindliche, rechtsextreme Partei gewählt. Kann es so etwas wie einen gemeinsamen Ruck in dieser Gesellschaft überhaupt noch geben?
Die gute Nachricht ist: Damit sich etwas gesamtgesellschaftlich etwas verändert, müssen das nicht alle wollen. Es gibt Studien, die besagen, dass schon 17 bis 30 Prozent einer Gruppe die Mehrheit umstimmen und eine bleibende Veränderung herbeiführen können. In unserer fünfköpfigen Familie zum Beispiel haben zwei angefangen, auf Fleisch zu verzichten. Mittlerweile essen wir alle vegetarisch. Um noch mal zum Anfang zurückzukommen: Sollte man auf eine Flugreise verzichten, wenn alle anderen um einen herum weiterfliegen? Ja. Denn diese Entscheidung beeinflusst andere Menschen und verändert nach und nach die Normen in der Gesellschaft.