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Julia Borggräfe: „Bürokratopia“: Apathischer Apparat. Empfohlen von Peter Laudenbach.
Der Weckruf war deutlich, aber nicht unbedingt überraschend: Die Leistungsfähigkeit des Staates ist in einem Zustand, der für die Bürger eine Zumutung, für die Unternehmen ein Standortnachteil und für die politische Stabilität des Landes ein Risikofaktor ist. So etwa lautet, etwas verkürzt, der Befund einer hochkarätigen, mit einem früheren Verfassungsrichter, zwei ehemaligen Bundesministern und einer Managerin besetzten Expertenkommission. Unter Schirmherrschaft des Bundespräsidenten haben sie dem Staat den Puls gemessen.
Ihr vor Kurzem vorgelegter Zwischenbericht signalisiert dringenden Handlungsbedarf. Einer der Autoren, der Verfassungsjurist Andreas Voßkuhle, zählt in einem Interview mit der FAZ einige Großbaustellen auf: Die Energieversorgung – „unsicher und teuer“, die Verteidigungsfähigkeit – nicht vorhanden, die Digitalisierung des öffentlichen Sektors – „weitgehend verschlafen“, die Bürokratiekosten – „extrem hoch“. Und so weiter.
Eine leistungsfähige Verwaltung dient dem Schutz der Demokratie genauso wie dem Wirtschaftsstandort
Was die Expertenkommission des Bundespräsidenten im Rundumblick konstatiert, untersucht Julia Borggräfe mit ihrem Buch „Bürokratopia“ jetzt in detailscharfen Großaufnahmen und erschütternder Anschaulichkeit. Die Juristin kennt den Apparat von innen, sie hat im Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Abteilung „Digitalisierung und Arbeitswelt“ aufgebaut. Heute ist sie Unternehmensberaterin und spezialisiert auf Verwaltungsinnovation. Die Praktikerin analysiert in ihrem Buch, sozusagen aus dem Maschinenraum, die Fehlentwicklungen der deutschen Bürokratie – von mangelnder Bürgerorientierung bis zu verpasster Digitalisierung.
Dass die öffentliche Verwaltung etwa so marode ist wie viele Schulgebäude und Brücken, ist kein Geheimnis. Laut einer Forsa-Studie glaubte 2023 nur noch ein gutes Viertel der Befragten, dass der Staat seinen Aufgaben gerecht wird. Mehr als zwei Drittel hielten ihn für überfordert. Seitdem dürften die Zahlen nicht besser geworden sein. Eine schlecht funktionierende Verwaltung ist nicht nur lästig und teuer. Zeigen sich die Behörden unfähig, unzuverlässig und übergriffig, hat das unmittelbare Folgen für das Verhältnis der Bürger zu ihrem Staat.
Ihre „zentrale Bedeutung für eine lebendige Demokratie“ haben die Verwaltungs- und Sozialwissenschaftler Berthold Vogel, Claudia Neu und Jens Kersten vor einigen Jahren in einem klugen Buch beleuchtet: „Politik des Zusammenhalts – Über Demokratie und Bürokratie“ (Hamburger Edition). Aus dieser Perspektive wird der beklagenswerte Zustand der öffentlichen Verwaltung zur Gefahr für die Akzeptanz und damit die Zukunftsfähigkeit der Demokratie. Arbeit an einer gut aufgestellten, leistungsfähigen Verwaltung dient dem Schutz der Demokratie genauso wie dem Wirtschaftsstandort. Borggräfe fragt, wie diese Arbeit gelingen kann.
Eine digitalisierte Organisation ist mehr als die alte Organisation mit Internetanschluss
Ihre Kernthemen sind dabei die Digitalisierung und Bürgerorientierung der Verwaltung. Eine digitalisierte Organisation ist nicht einfach die alte Organisation mit Internetanschluss. Und eine digitalisierte Behörde arbeitet nicht einfach mit Akten am Bildschirm statt im Leitz-Ordner. Gelingende Digitalisierung verändert Entscheidungsprozesse, Kommunikationswege, Handlungsroutinen, Zuständigkeiten. Das Gleiche gilt für echte Bürgerorientierung der Verwaltung. Und beides greift ineinander.
Digitalisierung ohne echte Bürgerorientierung bedeutet nur noch mehr schwer verständliche Standard-Eingabemasken und schlecht erreichbare Sachbearbeiter. Im schlimmsten Fall dient die Digitalisierung dann bloß dazu, die lästigen Bürger auf Distanz zu halten. Digitale und bürgerorientierte Transformation der Verwaltung ist nicht mit neuen Computern und ein paar Schulungen für die Sachbearbeiter und Abteilungsleiterinnen getan. Sie erfordert einen Mentalitätswechsel und Arbeit an der Organisation. Von dieser Aufgabe handelt Borggräfes Buch.
Die Pointe ist dabei nicht nur, dass der Buchtitel „Bürokratopia“ zwei einander sehr fremde Begriffe koppelt, die kleinteilig geregelte Bürokratie und die luftige Utopie einer schönen Zukunft. Borggräfe dreht die gängigen Krisendiagnosen um, indem sie die öffentliche Verwaltung vom Problem zur Lösung macht, die „die Demokratie retten“ kann. Die andere Pointe ist natürlich, dass das Buch im leicht anarchistischen, aufrecht linken Wagenbach-Verlag erscheint, dem man sicher keine übertriebene Staatsgläubigkeit unterstellen kann. Das steht symbolisch für einen interessanten Perspektivwechsel. Während rechtsradikale Libertäre wie Elon Musk oder der argentinische Präsident Milei den Staat mit der Kettensäge zerlegen wollen, entdeckt eine aufgeklärte Linke, wie bitter notwendig eine funktionierende Verwaltung als Voraussetzung für Demokratie, eine liberale Gesellschaft und zivilisiertes Zusammenleben ist. Vor den Perspektiven auf eine gelingende Modernisierung der Bürokratie kommt in Borggräfes Buch die harte Analyse ihres unerfreulichen Ist-Zustandes. Dazu gehört eine gewisse Ignoranz der Politik gegenüber der öffentlichen Verwaltung, ihrem wichtigsten Instrument. Wenn Politiker ihren Erfolg an der Anzahl der durchgebrachten Gesetzesentwürfe messen, schlägt sich das im Bundesgesetzblatt mit vielen neuen Paragrafen nieder. „Aber die Verwaltung wächst nicht proportional zu den verabschiedeten Gesetzen. In keinem Gesetzgebungsverfahren wird die Leistungsfähigkeit der Verwaltung als Kriterium für die Verabschiedung gesehen“, kritisiert Borggräfe. Die strukturelle Überforderung der öffentlichen Verwaltung ist kein Naturgesetz, sondern unter anderem eine Folge politischer Entscheidungen. Die Bürokratie selbst wird zum Opfer der viel beklagten Überregulierung. Die Konsequenzen kann man in Form nicht abgearbeiteter Aktenberge und schleppender Verfahren besichtigen.
Ein geradezu revolutionärer Akt
Borggräfe untersucht, wie die Handlungslogiken in Ministerien und Behörden so etwas wie Bürgerorientierung und Nutzerfreundlichkeit geradezu systematisch ausblenden. Ein bezeichnendes Beispiel liefert das Antragsverfahren für Elterngeld: „Ausschließlich aus Sicht der Verwaltung gestaltet, zeichnet sich dieses durch zahlreiche Formulare, komplizierte Formulierungen und unübersichtliche Abläufe aus“, seufzt die Autorin. Der Befund der „mangelnden Orientierung an der Perspektive der Nutzer“ zieht sich wie ein Leitmotiv durch das Buch. Zur Bürgerorientierung des Verwaltungshandelns fehlten verbindliche Standards und Institutionen, die deren Einhaltung einfordern können. Silodenken und starre Hierarchien in den Ministerien befördern die Selbstgenügsamkeit des Apparats.
Die „Arbeits- und Denkkultur in der Verwaltung“ lässt in Borggräfes Augen „zu wenig Raum für das Reflektieren von Alternativen, Analysieren von Konflikten und Hinterfragen von Annahmen“. Das ist die Beschreibung einer Organisationskultur, die weit hinter den Standards moderner Unternehmen zurückbleibt. Der starre Formalismus der Bürokratie sorgt für eine gewisse Selbstbezüglichkeit unter Ausblendung einer etwas komplizierteren Lebenswirklichkeit: „Der Beamtenapparat ist zwar in der Lage, juristisch einwandfreie Lösungen zu formulieren, doch fehlt oft der Blick dafür, ob diese auch praktikabel und sinnvoll für die Bürgerinnen und Bürger sind“, kritisiert Borggräfe.
Der Digitalisierungs-Nachholbedarf der Verwaltung ist oft beklagt worden. Borggräfe beschreibt, weshalb das nicht nur ein IT-Problem ist, sondern viel mit der Organisation der Bürokratie zu tun hat. Solange jede der 11 000 Kommunen in Deutschland mit ihren regionalen Dienstleistern an eigenen IT-Lösungen bastelt, ist das Land von einer modernen digitalen Verwaltung weit entfernt. Und weil auch sonst die IT-Systeme verschiedener Behörden oft nicht kompatibel sind, dürfen Bürger und Unternehmen dieselben Daten dann mehrfach einreichen.
Am Beispiel des E-Personalausweises, die Voraussetzung einer bürgernahen digitalen Verwaltung, beschreibt Borggräfe, wie „die strukturellen Realitäten in der Verwaltung und die Nutzer-Perspektive“ großzügig ignoriert worden sind. Kein Wunder, dass kaum jemand den E-Ausweis verwendet, schon weil seine Beantragung ein umständlicher bürokratischer Akt ist. Ähnliches gilt für das 2017 in Kraft getretene Onlinezugangsgesetz. Vom Ziel eines unkomplizierten Zugangs zu staatlichen Dienstleistungen sind die Behörden noch immer weit entfernt: „Bis zum Ende der ursprünglich gesetzten Frist im Dezember 2022 waren viele der vorgesehenen Onlinedienste nicht verfügbar, trotz enormer Investitionen in die Systeme.“ Wie mit einer hochauflösenden Kamera zoomt die Autorin in ihrem Buch ins Organisationsdickicht der Behörden und Ministerien und der dort angefertigten Gesetze, Förderrichtlinien und Formulare. Manchmal meint man, hinter der nüchterner Beschreibung den kalten Zorn der Autorin herauszuhören. Aber ihr Buch ist weit mehr als eine Mängelliste. Erst recht reiht es sich nicht in das populistische Genre des Wutbürger-Bashings gegen die Funktionseliten ein. Die Autorin interessiert sich für die strukturellen Ursachen des Systemversagens, weil sie davon überzeugt ist, dass sie sich im Interesse der Leistungsfähigkeit des Staates und seiner Nutzer, der Bürger, korrigieren lassen. Einer von Ressentiments getriebenen Staatsverdrossenheit setzt sie das Vertrauen darauf entgegen, dass sich Verwaltungsprozesse moderner, flexibler und effizienter gestalten lassen.
Einer ihrer Vorschläge ist die Adaption der in vielen Unternehmen üblichen agilen Arbeitsweisen. Die Berücksichtigung der im Apparat häufig vernachlässigten Nutzerperspektive sollte nach Borggräfes Ansicht „verpflichtend“ in die Verfahren eingebunden werden. Das klingt selbstverständlich, käme angesichts der Handlungslogiken der öffentlichen Verwaltung aber einem geradezu revolutionären Akt gleich. Borggräfes Vorschläge sind wie das ganze Buch wohltuend nüchtern, kenntnisreich und pragmatisch. Das macht es zu einer Handreichung für die Aufgabe, die der frühere Verfassungsrichter Voßkuhle als Konsequenz der Krisendiagnose seiner Expertenkommission anmahnt: die umfassende Modernisierung des Staates.