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Asal Dardan: „Traumaland“: Verdrängung und Beschönigung. Empfohlen von Sonja Zekri.
Unter den vielen Missverständnissen zwischen der deutschen Gesellschaft und ihren Einwanderern ist jenes über die Erinnerungskultur wahrscheinlich am schwierigsten auszuräumen. Die Erwartung der Mehrheit ist – politisch parteiübergreifend – klar: Wer in Deutschland lebt, ganz gleich, wo seine Wurzeln liegen, muss die deutsche Geschichte kennen und Deutschlands besondere Verantwortung daraus nicht nur achten, sondern sich sogar zu eigen machen. Diese Forderung wird umso entschiedener vorgetragen, als ihr die Annahme zugrunde liegt, diese historische Verantwortung sei etwas klar Umrissenes, von politischen Dynamiken Befreites. Das ist sie natürlich nicht. Die Fixierung auf den Staat Israel als Gegenstand deutscher „Staatsräson“ ist eine Entwicklung der vergangenen 20 Jahre. Und ohne das Hamas-Massaker am 7. Oktober wäre auch der Fragenkatalog für Einwanderer womöglich anders ausgefallen. Wer Deutscher werden will, muss nun wissen, auf welcher Grundlage der Staat Israel gegründet wurde und wer Mitglied der jüdischen Maccabi-Sportvereine werden kann.
Die Perspektive der Zuwanderer ist eine völlig andere. Sie stammen oft selbst aus Ländern mit einer grausamen Geschichte oder einer noch immer grausamen Gegenwart – Afghanistan, Syrien, Iran. In den Augen der Migrationsskeptiker aber macht sie das nicht anschlussfähiger, im Gegenteil. Gerade wegen ihrer Gewalterfahrung gelten sie als Risikokandidaten, als eingeschränkt integrierbar.
„Uns trennte nicht Bildung, sondern Prägung.“
Regelrecht unüberbrückbar aber werden die Gegensätze, wenn die Zugewanderten die Erwartung der Mehrheit erfüllen, wenn sie sich tatsächlich in deutsche Geschichte und deutsche Verantwortung versenken, aber zu ganz anderen Schlüssen kommen. Denn diese Auseinandersetzung läuft auf eine Frage hinaus, die für Zugewanderte durchaus existenziellen Charakter annehmen kann: Wie kann ein Land, das sich so viel zugute hält auf seine Aufarbeitungsleistung, so anfällig sein für autoritäre Verlockungen und rassistische Gewalt? Das ist die brutal aktuelle Frage von Asal Dardans Buch „Traumaland“.
Dardan, 1978 in Teheran geboren, ist in Köln, Bonn und Aberdeen aufgewachsen und hat in den USA und in Schweden gelebt. Ihr Band „Betrachtungen einer Barbarin“ wurde vor vier Jahren vielfach ausgezeichnet. Es war die biografisch grundierte Erkundung, ein Plädoyer für Ambiguitätstoleranz, auch, wenn man so will, eine Handreichung für all jene, die Identität nur im Singular verwenden.
Als Asal Dardan Freunden bei einem Abendessen erzählt, dass sie Dessau als Trauma-Ort besuchen will, redet die Runde eine Zeit lang aneinander vorbei, bis sie begreifen: Alle denken an das Bauhaus, Dardan aber an drei Morde. Der mosambikanische Fleischermeister Alberto Adriano wurde im Stadtpark von Skinheads zusammengeschlagen und starb drei Tage später. Der Asylbewerber Oury Jalloh aus Sierra Leone verbrannte gefesselt in Polizeigewahrsam. Die chinesische Studentin Li Yangjie wurde in ein Haus gelockt, vergewaltigt und umgebracht. Wie es sein kann, dass derselbe Ort, dieselbe Vergangenheit so ausschließlich auf die eine oder andere Weise erinnert wird? Ganz einfach, sagt Dardan: „Uns trennte nicht Bildung, sondern Prägung.“
Die Verbrechen von gestern und die Härten von heute rückt Dardan kompromisslos zusammen
Es ist ein anderer Blick auf Deutschland, tiefer vielleicht, ganz sicher beunruhigter und – obwohl Dardan sich vehement dagegen verwehrt – durchaus anklagend. Was die schmerzhafte Selbstbefragung angeht, verlangt sie allerdings nichts, was sie nicht selbst erfahren hätte. In „Beobachtungen einer Barbarin“ beschreibt sie die Erschütterung, als sie erfährt, dass die Sehnsucht ihrer iranischen Eltern nach der verlorenen Heimat auch damit zu tun hat, dass ihr Vater für den Savak, den gefürchteten Geheimdienst des Schah, gearbeitet hat.
Die Verbrechen von gestern und die Härten von heute – in der öffentlichen Wahrnehmung sauber getrennt – rückt sie kompromisslos zusammen. Im Juni 2023 wollte die Berliner Polizei eine 18-jährige Romnija nach Moldau abschieben, so schreibt sie. Bei der Suche in Marzahn aber ging der elfjährige Bruder verloren, die Eltern waren nicht zu Hause, die Beamten hatten ihn bei den Nachbarn abgegeben. In Marzahn hatten die Nazis von 1936 bis 1943 mehr als Tausend Sinti und Roma eingesperrt und als Zwangsarbeiter ausgebeutet, so erinnert Dardan: Sie sollten während der Olympischen Spiele aus dem Stadtbild entfernt werden. Manchmal trifft beides auf entsetzliche Weise in derselben Person zusammen. Filip Gomans Großvater wurde von den Nazis als Rom in Auschwitz ermordet, seine Tochter von einem Rechtsextremen in Hanau.
Dass sie sich mit diesem Ansatz den Vorwurf einhandeln kann, sie vergleiche das Unvergleichliche, schlimmstenfalls sogar, sie relativiere, schreckt sie nicht ab. Sie suche keine Vergleichbarkeit oder Gleichheit von politischen Verbrechen, schreibt Dardan: „Ich kann nur nicht nachvollziehen, welcher moralische Wert darin liegt, sie nicht in ihrer Verbindung zueinander zu betrachten.“ Ja, welcher?
Um zu zeigen, wie der NS-Terror noch das Unbewusste, den Schlaf der Menschen prägte, zitiert Dardan aus Charlotte Beradts Untersuchung „Das Dritte Reich im Traum“. Darin erzählt eine Frau, sie habe die Adresse eine Freundin im Telefonbuch nachgeschlagen, aber aus Vorsicht nicht unter dem richtigen Namen „Klein“, sondern unter „Groß“ gesucht. Ein Mann berichtet von einem Traum, in dem er Russisch sprach, das er nicht beherrschte, nur so konnte er sich selbst nicht verstehen und deshalb auch nichts Verbotenes sagen.
Diese elementare Vereinzelung, die völlige Isolation des Menschen in einem Terrorstaat, dürfte für jene, die im Schutz der Bundesrepublik herangewachsen sind, schwer vorstellbar sein. Für einen Syrer, der unter der Assad-Diktatur mit seinem monströsen Überwachungs- und Folterapparat gelebt hat, ist sie mühelos abrufbar.
Nicht alle Ausführungen sind gleichermaßen erhellend. Wer ein wenig über Klemperer, Adorno und Arendt weiß, dürfte manches wiedererkennen. Sie habe keine Chronologie vorlegen wollen, keine trügerisch lineare Entwicklung, aber die schiere Masse an Mord und Tod, alten Nazis, neuen Nazis, Verdrängung und Beschönigung, fügen sich zu einer nationalen Gewaltgeschichte, der fast eine Zwangsläufigkeit innewohnt. Die immer wieder leidenschaftlich ausgetragenen Wellen der Aufarbeitung, die liberalen Strömungen, die aufrichtigen Bemühungen etwa der jüngeren Generation, eine belastete Geschichte nicht fortzusetzen und beispielsweise das Otfried-Preußler-Gymnasium in Pullach umzubenennen, handelt Dardan knapp wie eine Pflichtübung ab. Das nimmt ihrem Buch nichts von seiner Wucht, nichts von der enormen Leistung, in diesen kalten, unsolidarischen Zeiten auf das humanistische Minimum zu beharren. Aber gerade deshalb hätte man gern auch die Zwischentöne gehört.