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Roberto Saviano: „Treue“: Tödliches Risiko: Liebe. Empfohlen von Carolin Gasteiger.
Vielleicht ist es die Geschichte von Vincenzina, die einen am meisten berührt. Vincenzina ist mit Leoluca verheiratet, einem Capo der sizilianischen Mafiafamilie der Corleonesi. Das Gute: Die Verbindung ist keine reine Zweckehe. Das Schlechte: Die beiden warten sehr lange auf Nachwuchs. Und Vincenzina erleidet eine Fehlgeburt nach der anderen. Was jedes Paar emotional mitnimmt, erschüttert Vincenzina bis ins Mark. Denn ein Mafioso ohne Erben ist gefährdet, kann seine Macht nicht behaupten, kein Boss werden. Vincenzinas einzige Aufgabe als Ehefrau ist es, einen Nachfolger zu gebären. Aber sie versagt.
Anders bei Maria Concetta. Ihre Beziehung zu ihrem Mann Salvatore ist weniger von Liebe geprägt. Die beiden heiraten, als Concetta fünfzehn Jahre alt ist, für Salvatore bedeutete diese Ehe ein Ticket in die kalabrische ’Ndrangheta, der Concettas Familie angehört. Aber er misshandelt sie. Als Concetta sich in die Arme eines anderen flüchtet, wird sie nicht etwa von Salvatore verprügelt, sondern von ihrem eigenen Bruder.
Denn die sogenannte Ehre einer Frau ist von sämtlichen männlichen Familienmitgliedern, Vätern, Brüdern, auch Cousins, zu verteidigen. Concetta packt irgendwann aus, erzählt alles der Polizei. Und schreibt ihrer Mutter einen Brief: „Ich finde keine Worte, um mein Handeln zu rechtfertigen, Mama.“ Dabei übersieht sie, dass ihre eigene Mutter ja noch länger, und strikter, nach den Regeln der Mafia lebt als sie selbst. Wie die meisten Geschichten in diesem Buch nimmt auch die von Concetta kein gutes Ende.
Ein Mafiaboss hat Angst davor, Frau und Geliebte könnten sich begegnen
In einzelnen Episoden widmet sich der Schriftsteller, Autor und Journalist Roberto Saviano in seinem neuen Buch „Treue“ den Frauen in der Mafia. Und einem Thema, über das bislang noch wenig geschrieben wurde: welche Rolle Liebe und Sex darin spielen. In der Logik der Mafia sind Frauen ein Faktor, den es zu kontrollieren gilt. Entweder sie werden klug verheiratet, als Köder eingesetzt – oder müssen aus dem Weg geräumt werden. Manche Mafiafrauen schaffen es aber auch, selbst zum Capo zu werden – wie etwa Anna Carrino, die alle commare nennen, Gevatterin. „Sie ist mit jeder Angelegenheit, jedem Geschäft, jedem Deal befasst“, schreibt Saviano. Welche Macht etwa weibliche Bosse haben, ob sie gar das ganze System zum Kippen bringen könnten, das lässt er offen. Sein Fokus liegt darauf, abzubilden, darzustellen, nicht, zu interpretieren.
Jede Episode basiert auf einer wahren Geschichte, mit echten Namen, auch die von Vincenzina und Concetta, Saviano hat sie jedoch im Stil einer literarischen Reportage aufgeschrieben. In Italien ist das Original im vergangenen April mit dem persönlicheren Titel „Noi due ci apparteniamo / Wir zwei gehören zusammen“ erschienen. Der Satz stammt aus einem Brief von Laura Bonafede an ihren Liebhaber Matteo Messina Dennaro. Bevor der im Januar 2023 nach 30 Jahren gefasst wurde, galt er als der letzte Capo dei capi, der letzte große Boss der sizilianischen Cosa Nostra. Die Verhaftung Dennaros war es, die Saviano überhaupt erst zu seinem Buch inspiriert hat. Hatte der Oberboss doch fast mehr Angst davor, dass sich seine Ehefrau und seine Geliebte begegnen könnten, als davor, seine Freiheit zu verlieren.
Vor zwanzig Jahren hat Savianos Welterfolg „Gomorrha“ erschüttert. Auch dieses Buch, sein inzwischen zehntes, ist aufwühlend. Und es zeichnet sich dabei durch die literarische Finesse des Autors als durch seine genaue Recherche und detailreiche Schilderung der einzelnen Schicksale aus. Savianos Sprache ist in der Übersetzung von Anna und Wolf Heinrich Leube klar und deutlich. Denn was im wahren Leben schon kaum fassbar ist, braucht keine schriftstellerischen Schnörkel.
„Treue“ ist eine fundierte und furchtbare Chronik von Ehen, Beziehungen und Arrangements von Verbrechern, nicht nur aus Italien, sondern auch aus Nord- und Südamerika – und Sätze wie „Wenn du das machst, betonierʼ ich dich ein“ sind dabei keine Metaphern. Klar wird aber, dass das Rollenverständnis sich innerhalb der kriminellen Organisationen unterscheidet. In der Cosa Nostra muss man monogam leben, darf nicht homosexuell oder mit jemandem verwandt sein, der homosexuell ist, und auch nicht geschieden sein. In der Camorra hingegen gilt es als Zeichen von Ausstrahlung, ein donnaiolo, ein Frauenheld zu sein.
„Wir zwei gehören zusammen“ – dieser Satz trifft auch auf das Verhältnis Roberto Savianos zur Mafia zu. Er schreibt ja über nichts anderes. In seinem letzten Buch von 2024 ging es um den berühmten Untersuchungsrichter und Mafiajäger Giovanni Falcone, nun eben um die Frauen in der Mafia. Der Mann ist längst mehr Aktivist als Journalist, was nach Jahrzehnten unter Polizeischutz auch verständlich ist – aber eben erwartbar. Dennoch gebührt ihm Respekt. Schreiben ist sein Kampf, seine Art, sich gegen die Mafia zu stellen. Mit Worten, Geschichten und Namen. Denn, so seine Auffassung: In dem Moment, in dem niemand mehr über die Mafia redet oder schreibt, hat sie gewonnen.