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Das Debüt aus Norwegen: Ist der Hype real? Empfohlen von Bernhard Heckler.
Vor zehn Jahren hat der norwegische Fußballspieler Martin Ødegaard einen Vertrag bei Real Madrid unterschrieben. Zum Zeitpunkt der Unterschrift war er 16 Jahre alt. Der Hype war groß, weil 16 selbst für den Profifußballbetrieb, der mit Kindern und Jugendlichen handelt wie mit Aktien, sehr jung ist, um einen Vertrag bei einem Weltklub zu unterschreiben.
Im Literaturbetrieb herrscht nicht ganz so ein Adoleszenzwahn. Auch 35-Jährige gehen mitunter noch als „junge Talente“ durch, wenn sie ihre Romandebüts vorlegen. In so einem Alter ist eine Profifußballkarriere in aller Regel schon so gut wie vorbei. Aber gerade scheint sich auch in der Belletristik etwas zu bewegen. Etwas, das interessanterweise auch von Norwegen ausgeht.
Im Literaturbetriebspodcast „Hanser Rauschen“ schwärmt Emily Modick, die Verlegerin des Imprints Hanserblau, im Oktober 2024 von einem Neuzugang im Programm des Schwesterverlags Hanser Berlin. „Die haben einen ganz, ganz, ganz jungen, norwegischen Autor im Programm, Oliver Lovrenski. Richtig jung, so neunzehn, zwanzig. Der Ton ist so krass aktuell, der ist irgendwie so direkt den Leuten abgehört, den jungen Leuten.“ Es sei „einfach so irre, was das mit einem macht“.
Der Hype ist also groß. Zumindest der verlagsinterne Wille zum Hype. Lovrenski wird in wenigen Tagen auf der Leipziger Buchmesse auftreten, Norwegen ist Gastland. Man wird sehen, ob und wie sehr er gefeiert werden wird. Bisher ist alles, was man hierzulande zu ihm findet, sein erstes Buch. Es ist vor ein paar Wochen erschienen, es heißt auf Deutsch „bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann“.
Klingt gleich bemerkenswert: Er habe das Buch „teilweise auf dem Handy“ geschrieben
Der Roman ist als Produkt sehr gelungen. Das Cover ist knallrot, zeigt einen oberkörperfreien, jungen Mann mit grober Halskette, und könnte auch ein gutes Cover für ein Rap-Album sein. Im Umschlag ist kein Autorenfoto (Mystifizierung, gut für den Hype), sondern nur eine kurze Autorenbiografie mit folgenden Kerninformationen: Geboren 2003, wuchs in Oslo als Sohn einer Kroatin und eines Norwegers auf. Seinen „autobiographischen“ Debütroman habe er „teilweise auf dem Handy“ geschrieben. Er stand in Norwegen monatelang auf der Bestsellerliste und wird weltweit in 15 Sprachen übersetzt.
In Fußballerjahren ist er ungefähr drei Jahre alt. Dass er den Roman teilweise auf dem Handy geschrieben hat, ist sehr, sehr, sehr gegenwärtig. Das findet auch die renommierte deutsche Schriftstellerin Charlotte Gneuß. Auf dem Buchrücken findet sich ihr Quote: „Das ist Gegenwartsliteratur, aber halt echt, also echt gegenwärtig.“ Außerdem wirkt auf dem Handy schreiben extrem authentisch. Noch authentischer ist vornehmlich nur der autobiografische Inhalt des Buchs, in dem ein sprachbegabtes, echtes Street Kid laut Klappentext ungeschönt und aus erster Hand vom „Ballern, Dealen, Abhängen, Saufen“ erzählt.
Vor der Lektüre kann man es sich nicht verkneifen, Oliver Lovrenski kurz zu googeln. Innerhalb von zwei Sekunden findet man heraus, dass er der Sohn des bekannten norwegischen Dichters Håvard Rem ist, der unter anderem eine Biografie über Bob Dylan und Lieder für die Band a-ha geschrieben hat. Aha.
Auf der Plot-Ebene ist der Text ein komplett konventionelles Gangsterdrama
Wie dem auch sei. Es wird langsam Zeit, das Buch auch zu lesen. Was kann Lovrenski dafür, wie er vermarktet wird. Vielleicht war er bei den diversen Vertragsunterzeichnungen noch minderjährig und konnte nicht groß mitreden. Auf der Plot-Ebene ist der Text ein komplett konventionelles Gangsterdrama, Schrägstrich Ghettoromanze. Den Inhalt hat man schon eine Million Mal gehört. Der Film „Hass – La Haine“ von Mathieu Kassovitz, mit Vincent Cassel in der Hauptrolle, an den man sich jede dritte Seite erinnert fühlt, ist dreißig Jahre alt.
Der junge Ich-Erzähler Ivor hat drei Kumpels: Arjan, Jonas und Marco. Mit ihnen hängt er in einem maroden Einkaufszentrum herum, dealt und konsumiert Drogen, prügelt sich auf Oslos Straßen, trauert seiner nie in Gang gekommenen Boxerkarriere hinterher und gerät auf die schiefste Bahn ever. Mal erwischt er einen seiner Kumpels „mit der leersten polnischen vodkaflasche ever“, mal beschreibt er seine Frisur als „den kürzesten balkanfade ever“.
Die Kapitel sind manchmal nur so lang wie Tweets, zum Beispiel dieses Kapitel: „im kindergarten war papa goldschmied soldat astronaut und pirat, eigentlich ist er einfach abgehauen, aber pirat klang cooler“. Eine Seite und ein Absatz ist schon ein sehr langes Kapitel. Die einzigen verwendeten Satzzeichen sind Kommata, alles ist in Kleinbuchstaben verfasst, gelegentlich kommen Emojis vor. Hinten im Buch erklärt ein unvollständiges Glossar den hilflosen Leserinnen und Lesern die coolsten aller Street-Begriffe.
Sie merken schon: Sich über das Buch in seiner Vermarktung und in seinem Inhalt lustig zu machen, ist ziemlich einfach. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es auf eine sehr durchkomponierte Art wirklich extrem gegenwärtig und authentisch wirkt. Die Sprache ist wahnsinnig genau, und die Übersetzung von Karoline Hippe ist phänomenal. Dass sie damit nicht für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist, ist eine hanebüchene Fehlentscheidung. Reiche Kids aus den besseren Osloer Vierteln, die bei Ivor Drogen kaufen, sind „ralph loren polo null pigment“. Die Jungs prügeln sich mit anderen Jungs, „sicher hundert macker in tracksuits und shiny monclers, als wär das hier ein reverse kkk meeting“.
Sehr gegenwärtig an der Genre-Variation ist auch, dass einer der Jungs, Arjan, selbstverständlich „mit einem anderen chabo unterwegs“ ist, „brokeback mountain style und so“. Homophobie gibt es in diesem Buch nicht. Depressionen spielen eine Rolle, auch Selbstzweifel, Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen. Mit dem Disclaimer „manche sachen erzählt man niemandem“ berichtet Ivor davon, wie er mit einem Spannbettlaken seinen Badezimmerspiegel verhängt, weil er es nicht erträgt, sich zu sehen. Mädchen sind allerdings ausschließlich „chayas“, die für die Jungs abwechselnd Fickmaterial und Rettungsfantasieprojektionsflächen sind. Nicht mit allen Genrekonventionen auf einmal brechen, wird sich der Autor gedacht haben.
Den Text als autobiografisch zu bewerben, tut dem Autor keinen Gefallen
Dann stirbt einer der Jungs. Bei der Beerdigung sieht Ivor dessen Mutter. „wir sehen, wie sie fällt, bei der beerdigung jemand stützt sie, hält sie fest, es ist sein kleiner bruder er ist kleiner als sie“. Das ist brillant. Es enthält alles. Ein perfekt gearbeitetes Gedicht. Fast, als würde Ivor von einem Dichter abstammen oder so.
Die Figur im Buch ist allerdings vaterlos aufgewachsen und heißt ja nicht Oliver mit Vornamen. Den Text als autobiografisch zu bewerben, tut dem Autor keinen Gefallen. Er befördert eine latent unfaire Rezeptionshaltung, die der hohen Textqualität trotz Bemühen unter Umständen nicht gerecht wird. Weil der Leser einfach das Gefühl nicht loswird, angelogen zu werden, obwohl „Roman“ vorne draufsteht und die Wahrheit einem auch egal sein kann, wäre sie nicht als vermeintlicher unique selling point Teil der Verkaufsstrategie aller Verlage, die Lovrenski jetzt unter Vertrag genommen haben. Ein bisschen schimmert bei alldem auch eine rührende Sehnsucht des eher braven und eher gut als schlecht situierten Literaturbetriebs nach einem echten Ghettotypen durch.
Oliver Lovrenski wird von der Salomonsson Agency vertreten. Martin Ødegaard ist bei der Beratungsagentur Nordic Sky unter Vertrag. Der Ødegaard-Hype hat sich inzwischen zu einer nachhaltigen, erfolgreichen Profikarriere entwickelt. Ødegaard hat einen Stammplatz bei Arsenal London und sicher noch acht bis zehn gute Jahre vor sich. Vielleicht sollte Lovrenski über einen Agenturwechsel nachdenken. Wäre doch schön, wenn er noch acht bis zehn gute Bücher schreiben könnte. Die Begabung hat er allemal.