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Colm Tóibíns Gedichte „Vinegar Hill“: Was für ein Alterswerk! Empfohlen von Alexandru Bulucz
„Dann Rückzug hinter Hecken“, schreibt Seamus Heaney: „Bis zum letzten Konklave auf dem Vinegar Hill.“ Mit seinem „Requiem für die Croppies“, dem die Verse entnommen sind, hat der nordirische Literaturnobelpreisträger den 50. Jahrestag des Osteraufstands gegen die britische Herrschaft von 1916 begangen, der trotz seiner Niederschlagung zum Wendepunkt auf dem Weg zur Unabhängigkeit Irlands 1922 wurde.
Heaney zog damit eine Parallele vom Osteraufstand zur irischen Rebellion von 1798, als die Croppies, so der Spitzname der United-Irishmen-Rebellen, in der Schlacht von Vinegar Hill der englischen Krone unterlagen, nachdem sie das nahe gelegene Enniscorthy erobert hatten. Er verdichtet dabei den Unabhängigkeitskampf und den entsprechenden Konfessionskrieg zwischen Katholiken und Protestanten zum religiös konnotierten Bild vom letzten Konklave. Dass er sich dazu häufig hat erklären müssen, liegt an seiner Romantisierung der Rebellion und an einer offenen Andeutung: Die Croppies seines „Requiems“ treten ihren Rückzug auf den Vinegar Hill mit Gerste in ihren Taschen an, die dort aus der Erde des Hügels wächst, wo sie besiegt wurden und begraben liegen. Das hätte von einem protestantischen Publikum, vor dem Heaney in den Sechzigerjahren bisweilen las, als Rückendeckung der IRA interpretiert werden können.
In die Reihe der Iren und Nordiren, deren Literatur die Freiheitsbewegung auf der grünen Insel thematisiert, gehört auch Colm Tóibín, weltbekannt für seine Prosa, Romane wie „Brooklyn“, der mit Saoirse Ronan prächtig verfilmt wurde, oder den Thomas-Mann-Roman „Der Zauberer“. Mit „Vinegar Hill“ hat er 2022 ein Alterswerk in Form seines Lyrikdebüts vorgelegt.
Jetzt haben es der Dichter Michael Krüger und der Filmemacher Volker Schlöndorff übersetzt: Tóibín auf Deutsch zu vermitteln, sei ihre Art gewesen, ihm einen Freundschaftsdienst zu erweisen, schreiben sie. Es ist auch ein Dienst am leidenschaftlichen Lyrikleser, der begeistert merkt, wie hier Identität und Zugehörigkeit, Privates und Öffentliches, Sterblichkeit und Resilienz, Kunst und Literatur den Menschen in seiner ganzen Komplexität schillern lassen.
In die Euphorie der jungen Queeren können sie nicht einstimmen, spüren die Scham des Älterseins Tóibíns Anlass, den geschichtsträchtigen, titelgebenden Hügel zu besingen, ist allerdings profaner Natur. Tóibín wurde 1955 am Ort des Geschehens geboren, in Enniscorthy im Südosten Irlands, die Stadt gehört zum County Wexford, das an die Irische See grenzt: „Von unserem Haus aus können wir den Hügel sehen“, heißt im Kindheitsgedicht „Vinegar Hill“, in dem die Ereignisse von 1798 pflichtschuldig genannt werden, in dem es aber mehr um die Mutter als angehende Malerin geht: „weil sie es ganz natürlich fand,/ den Hügel als Motiv zu nehmen,/ versuchte sie ihn zu malen“. In aller Zeitlosigkeit liegt der Hügel im wechselnden Schatten und Licht: „Welche Farbe hat Vinegar Hill?/ Wie erhebt er sich über der Stadt?/ Er ist sowohl bucklig als auch rund./ Es gibt keinen Grund, die Geschichte// zu bemühen. Der Hügel steht darüber,/ widerständig, unergründlich, heiter.“
Widerständig, unergründlich, heiter, das sind auch Attribute des Bandes, die sich an unterschiedlichen Themen zeigen. Die Welt, aus der sie geschöpft werden, ist postkatastrophisch: Die irische Frage ist zumindest teilweise gelöst und ruht. Sie ist postapokalyptisch: Die Pandemie ist „die Zeit nach der Zeit,/ die Welt sieht hier so aus wie nach dem Ende der Welt“. Und selbst ein Tag wie der 23. Mai 2015, an dem sich die irische Bevölkerung für die schwule Ehe entscheidet, macht zwei bald sechzigjährigen schwulen Freunden deutlich, dass die vitalisierende Widerstandskraft des Schwulseins Geschichte ist: „Die aufregenden Jahre waren vorbei.“ Sie, und vielleicht auch Tóibín, der offen schwul lebt, können in die Euphorie der jungen Queeren nicht einstimmen, spüren die Scham des Älterseins und verfallen der Nostalgie der „schwulen Vergangenheit“, der sie eine minutiöse Kartografie Dublins anhand der verschwundener Szenetreffs folgen lassen: „Der Stadtplan,/ den allein sie lesen konnten,/ war nicht mehr gültig.“
Und so liest sich eine Reihe von Gedichten wie eine Meditation in gedrückter Stimmung über den Sinn des Lebens und das Vergehen des Einzelnen in der Zeit. In Tóibíns offensichtlich autobiografischen Gedichten taucht ein achtjähriges Schulkind auf, dem seine Mutter mitteilt, dass der Vater bald sterben werde: „Seitdem habe ich nicht mehr viel Vertrauen/ in irgendwas. Wenn ich mir z. B. die Namen derer,/ die ich liebe, ins Gedächtnis rufe, scheue ich mich,/ das zu flüstern, was ungesagt blieb.“ Ein Todesbewusstsein, das mit der eigenen Sterblichkeit rechnet: „Wenn die Chemo/ den Tumor killt/ und mich nicht“. Tóibín spielt auf seine Krebserkrankung während der Pandemie an, und zwar in einem eher heiteren Gedicht, das eine Einsicht veranschaulicht, die er in einem Interview von 2022 äußerte: „Ich gebe gerne zu, dass ich nichts dabei gelernt habe und dass etwas ganz und gar nicht stimmt, wenn du erst durch den Krebs lernen musst, das Leben zu schätzen.
Doch es ist nicht so, als würde Tóibín nur Trübsal blasen. Der Spott, der sich in seinen Gedichten über den Katholizismus ergießt, ist voller Komik und Angriffslust, fast schon blasphemisch. Es betrifft Nonnen, denen endlich das Autofahren erlaubt ist und die in ihrer Unbedarftheit „die Gottesfurcht auf andere/ Verkehrsteilnehmer“ übertragen. Ebenso wie den Bischof, der einen Tag vor dem Besuch von John F. Kennedy in Wexford gestorben sein soll, was zu wilden Spekulationen animiert.
Der einzige Wermutstropfen der Übersetzung: Sie hat nicht alle Texte des Originalbandes berücksichtigt und auch das „Gebet an die Heilige Agnes“ ausgespart, das notwendig wäre, weil es poetologischen Aufschluss über Tóibíns Formen gibt: Das lyrische Subjekt bittet die Heilige darum, ihn von der Metapher zu heilen. Damit optiert Tóibín für einen schlichten poetischen Ausdruck. Er ist ganz der Erzähler, der den narrativen und auch dialogischen Charakter seiner Prosa auf die Lyrik überträgt, die aus einer schlanken Konstellation von Figuren und Ereignissen hervorgeht. Eine Dichtung, die sich in ihrer Aussage ohne Weiteres erschließen soll.