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Geh ins Gymmi, werde skinny
An der Smoothietheke im „Mega Gym“ werden nicht nur Proteinsäfte wie „Muscle-Shake“ oder „Sixpack on the beach“ verkauft, sondern auch ein Versprechen. Deshalb die zwei freien Zentimeter Haut zwischen Leggingsbund und Top – „ein winziger Teaser, ein Hauch von Nacktheit“, schreibt Verena Keßler. Und weil das nicht reicht, hat die namenlose Protagonistin in ihrem Roman Gym noch einen Reißverschluss im Sporttop: „Leicht geöffnet, nur so weit, dass es nicht billig wirkt, aber weit genug, weit genug.“ Sollen doch alle sehen, wie fit sie ist.
Keßlers dritter Roman spielt im Gym – naheliegend und genial. Fast zwölf Millionen Menschen gehen in Deutschland ins Fitnessstudio (oder haben die letzte Kündigungsfrist verpasst). Es ist ein Ort, der Leistung belohnt: An der Beinpresse sind alle gleich – und zugleich allein. Während Kirchen und Vereine schrumpfen, geht man in der Freizeit lieber ins Gym, schaut auf sich selbst und zählt Kalorien. Alles für den Wunsch: Kann mich mal jemand ansehen? Jemand begehren?
Keßler spielt mit diesem Kontrast. Ihre Erzählerin findet erst Hoffnung, dann Verderben im Leistungskult der proteinbesessenen Gegenwart – auf maximal unterhaltsame Weise. Dieses Buch geht rein wie eine gute Techno-Spinning-Class: rasant, verschwitzt, auf 192 Seiten keine Sekunde zu lang.
Der Gymbesitzer ist vielleicht Feminist, aber die Trainerin nicht wirklich Mutter
Es soll ja Leute geben, die im Fitnessstudio etwas kompensieren. Keßlers Protagonistin steckt mitten in der ultimativen Midlife-Crisis, hat Partner und Job verloren – nicht ohne eigenes Verschulden. Für den Neustart hilft eine kleine Lüge im Bewerbungsgespräch fürs „Mega Gym“, um die noch nicht optimierte Figur zu erklären: „Ich habe gerade erst entbunden.“ Kein Problem für Besitzer Ferhat, der mit Stolz sagt: „Ich bin Feminist.“
Das ausgedachte Baby führt zur Scharade: kleine Milchfläschchen im Gym-Kühlschrank, ein Strom an Ratschlägen („Beckenboden trainieren“, „Babybrei aus dem Thermomix“). Die Ich-Erzählerin kann alle – und sich selbst – glänzend anlügen, bis sie vor dem Ganzkörperspiegel denkt: „Dass ich erst vor wenigen Monaten ein Kind ausgetragen hatte, war wirklich kaum zu glauben.“
Das Ensemble ist grob, aber pointiert gezeichnet: Milli, die übermotivierte 18-Jährige („mega!“, „cool!“); Şeyda, tatsächlich Mutter und damit Gefahr fürs Lügengebäude; Influencerin Swetlana, die ihren Po inszeniert. Umso komplexer wirkt die Erzählerin.
Verena Keßler: Gym. Roman. Hanser Berlin, Berlin 2025. 192 Seiten, 23 Euro.
Im „Palast aus glänzenden Oberflächen“, der nach Basilikum-Duftkerzen riecht, öffnen sich die Abgründe ihrer Psyche: Sie lügt, betrügt, ist obsessiv, will von allen begehrt werden. Übertrumpft sie ein Mann, fantasiert sie, ihm „den Fuß … in seinen unteren Rücken zu rammen“. Unhinged, radikal – verwandt mit Lena Dunhams Figuren, Fleabag oder einer Heldin bei Ottessa Moshfegh.
Sie „masturbiert lange und wütend“, stellt sich vor, wie Männer über sie fantasieren, „auf den Tresen heben“ oder „über den Gymnastikball“ … Keßlers Figur kippt in toxische Posen – nicht als Selbstzweck, sondern um unsere Empathie zu testen. Je mehr wir über sie erfahren, desto weiter entgleitet sie uns. Und doch fiebert man mit: Das Patriarchat lauert überall – früher der übergriffige Chef, jetzt der ökonomische Zwang eines Schönheitsideals: „Ich verkaufe Shakes mit meinen Brüsten.“
Sie trainiert, bis die „Muskelfasern reißen“
Nach ersten Erfolgen verfällt sie dem Girlboss-Feminismus, fabuliert vom „Pre-Baby-Body“ im „MOMpowerment“-Kurs. Keßler beschreibt in leichtem, lakonischem Ton die Absurdität der Fitnesswelt – ohne moralische Hebelbühne.
Der Trip wird immer irrer. Eine Rückblende ins Büroleben vor dem Absturz verwebt Keßler geschickt mit dem Jetzt im Gym: die Spannung steigt auf beiden Zeitebenen. Die Heldin trainiert, bis sie die „Muskelfasern reißen hört“ und sich die Haut „dünn“ und „ledrig über die Muskeln spannt, die Adern bläulich durchschimmern“.
In seiner Bildsprache erinnert Gym an „Love Lies Bleeding“ (Bodybuilding-Obsession als Selbstzerstörung) – und an den Pop-Refrain: „Geh ins Gymmi, werde skinny …“ Wer so besessen vom Spiegelbild ist wie Keßlers Ich, findet den Untergang im Vergleich mit anderen: früher die jüngere, schönere Bürokollegin, jetzt die stärkere, kompromisslosere Bodybuilderin. Wie zuletzt in „The Substance“ endet auch hier alles in einem blutigen Finale.
Der fatale Ausbruch ist wunderbar konstruiert: Beim erneuten Durchblättern finden sich Doppeldeutigkeiten und Vorzeichen einer Eskalation, die unvermeidlich wirkt, wenn sich die Wut in einem langen Crescendo entlädt.
Wer Literatur als Ganzkörpererfahrung will, lege sich zur Lektüre einfach in die simpelste Übung: Planke, Brett, Unterarmstütz – nennen Sie es, wie Sie wollen. Erst die Euphorie, weil man sich hält. Dann der Frust, wenn die Arme zu Gummi werden. Und wenn man dem Körper noch ein paar Sekunden abringt (Geist über Materie!), bleibt der Triumph eines guten Workouts – ähnlich dem Gefühl beim Zuklappen dieses Romans.