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Wer hat Angst vor der bösen Wölfin?
Wölfe haben sie großgezogen und natürlich würde sie sich selbst als Wölfin bezeichnen, wenn sie sprechen könnte. Kann sie aber nicht. Auf allen vieren bewegt sich das Mädchen durch die Gegend. Sie lebt ohne Zukunft, ohne Vergangenheit. Doch als sie zu menstruieren beginnt, entwickelt sie aus der Wiederkehr des Gleichen eine vage Vorstellung von Zeit. Der „Keim einer Art wilden Herumdenkens“, wie er sich bei „Wolfsalice“ in die Wahrnehmung schleicht, ist in allen Erzählungen Angela Carters am Werk. In leuchtender Souveränität verknüpfen sie Spekulation und Imagination. Sie sind prächtig, voller Witz und fürchten sich nicht vor Sex und Gewalt.
Wollte man die zehn Erzählungen des 1979 im Original erschienenen Bandes mit Triggerwarnungen versehen, bräuchte man eine ganze Litanei. Was den latenten Subtext von Märchen und Mythen bildet, machte die 1940 geborene Britin programmatisch explizit. Sie nennt die Dinge beim Namen. Das geht keineswegs auf Kosten der Vieldeutigkeit, und das ist einer der Gründe, warum man „Die blutige Kammer“ voller Spannung liest. Ein anderer, dass sie völlig frei mit den Märchen umgeht, deren Motive sie mehrfach durch den Fleischwolf dreht, von „Blaubart“ über „Rotkäppchen“ und „Der gestiefelte Kater“ bis hin zu „Die Schöne und das Biest“ oder Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“.
Die umfangreiche Titelerzählung inszeniert die „Blaubart“-Geschichte mit Lust an sadomasochistischen Motiven und einer fast barocken Freude am Ausmalen weiblichen Selbstbetrugs. Die junge Ich-Erzählerin reist mit ihrem frisch angetrauten, deutlich älteren Mann im Liegewagen von Paris zu seinem Schloss in der Bretagne. Ungehemmt lässt sie ihren Mädchenfantasien freien Lauf und kommt der männlichen Manipulation nur allzu bereitwillig entgegen. „Und oh!, sein Schloss“, jubelt sie bei dessen Anblick. Selbst die Morgendämmerung mit ihrem „kühlen Bouquet aus Rosenpink und Tigerlilienorange“ erscheint ihr, als hätte der Gatte eigens „beim Floristen einen Himmel für mich bestellt“.
Mutter ist die Rettung, sie streckt den blutrünstigen Gatten nieder
Die Erzählung ist auf raffinierte Weise zweistimmig. Denn mit der imaginierten Stimme der Mutter fügt Carter der durchaus schönen Schwärmerei einen Ton abgeklärter Coolness hinzu. Sie hat sich einst „freimütig, skandalträchtig und trotzig für die Liebe ruiniert“. Und sie wird die Tochter am Ende retten. Kurz vor der Flut, die das Schloss regelmäßig von der Außenwelt abschneidet, prescht sie auf einem Pferd heran, um den blutrünstigen Gatten mit einem gezielten Kopfschuss niederzustrecken.
Wölfe, Tiger, Löwen spielen häufig eine Rolle. Und wenn die Liebe dazukommt, muss sich eben einer wandeln. Mal reißt der Tiger mit seiner Zunge der menschlichen Geliebten die Haut vom Leib, und ihr wächst ein Fell, mal verwandelt sich ein Löwe in einen Mann. Die Übergänge zwischen Menschen, Tieren, Geschlechtern sind fließend. „Der gestiefelte Kater“ ist von unschlagbarer Komik, die Maren Kames munter berlinernd überträgt. Überhaupt ist der Schriftstellerin eine umwerfende Übersetzung gelungen, die Carters opulenten Stil ebenso trifft wie ihre charakteristischen Bilder, die exakt auf der Kippe zwischen Verlockung und Bedrohung stehen.
Es sind nicht zuletzt die hinreißenden Details und die Lust an geradezu slapstickartigen Szenen, die für die Sammlung begeistern. Etwa wenn ein junger britischer Offizier in der Gothic-Erzählung „Die Herrscherin im Haus der Liebe“ in die Fänge einer zu Tode gelangweilten Nosferatu-Nachfahrin gerät. „Er verfügt über die spezielle Eigenschaft der Jungfräulichkeit, den verschwommensten, zugleich eindeutigsten aller Zustände“, heißt es über den jungen Mann, der in seinem Fronturlaub ausgerechnet mit dem Fahrrad die rumänische Hochebene erkunden will. Ein „Don-Quichotte-hafter Entschluss“, aus dem Carter ratzfatz geschichtsphilosophische Funken schlägt. Wie sie den britischen Soldaten, der „im Wandel der Zeit verwurzelt ist“ (ihm stehen die Schützengräben Frankreichs bevor), mit der „zeitlosen gotischen Ewigkeit der Vampire“ kollidieren lässt, ist als solches schon literarische Präzisionsarbeit. Wie sie überdies das Fahrrad zum „Produkt reiner Vernunft“ stilisiert, ist in der grafischen Gestaltung des Bildes von luzider Komik: „Gib mir zwei Kreise und eine Gerade, und ich werde dir zeigen, wie weit ich es damit bringe.“
Angela Carter übersetzte Charles Perraults berühmte Märchensammlung ins Englische. Sie schätzte Baudelaire und den Surrealismus, aber auch Dostojewski und Melville. Sie hat zahlreiche Erzählbände und Romane sowie Essays, Kinderbücher und Dramen geschrieben, vieles wurde in den 1980er-Jahren ins Deutsche übersetzt. Zwei Jahre lebte sie in Tokio. Auch diese Fremdheitserfahrung ist offensichtlich in den Band eingeflossen, der 1982 unter dem Titel „Blaubarts Zimmer“ bei Rowohlt erschien. Neil Jordans Fantasyfilm „Zeit der Wölfe“ basiert auf zwei der Geschichten. Angela Carter starb 1992 mit einundfünfzig Jahren an Lungenkrebs.
Vermutlich kannte sie Roland Barthes’ strukturalistische Interpretation des Marquis de Sade. Überhaupt denkt man beim Lesen oft an dessen Idee, gerade der moderne Text verlange nach einer aristokratischen Lektüre. Kongenial bekräftigen Julia Kissinas Illustrationen Carters bizarren Esprit. „Die blutige Kammer“ ist ein fantastischer Vorschlag, diese eigensinnige Schriftstellerin wiederzuentdecken.