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Chimamanda Ngozi Adichie. Die Frau, die ihre Träume zählt.
Eine Zeit lang waren die Liebesversuche ambitionierter Frauen das Interessanteste auf der Welt. Und dann war diese Zeit auch wieder vorbei. Es war um die Jahrtausendwende, als „Sex and the City“ einer der ersten globalen Serienerfolge wurde und Filme „Das merkwürdige Verhalten geschlechtsreifer Großstädter zur Paarungszeit“ oder „Wie werde ich ihn los in 10 Tagen“ hießen. Mit Wohlwollen konnte man in romantische Komödien damals etwas Politisches hineinlesen: die Vorstellung, gerade Frauen könnten sich Liebesgeschichte für Liebesgeschichte aus jahrtausendealten Geschlechterrollen und üblen Abhängigkeiten freispielen. Andere, zum Beispiel die israelische Soziologin Eva Illouz, warnten gleichzeitig davor, dass die neue Freiheit in der Liebe nur die liberalisierter Märkte war, was auch neue aber doch wieder besonders für Frauen negative Folgen hatte.
Das ist alles ein Vierteljahrhundert her und das fühlt sich lange vergangen an. Vor allem durch die MeToo-Bewegung ist inzwischen wieder hart und unspielerisch gestritten worden über das Ungleichgewicht von Macht zwischen Frauen und Männern. Der Feminismus mit seinen sozialen Kämpfen bekam die Relevanz, die ihm gebührt, gegenüber den Herzensangelegenheiten urbaner Kosmopolitinnen. Dem verdankt auch die Karriere von Chimamanda Ngozi Adichie als einer der seltenen Weltliteraturstars von heute einiges.
Der „Body Count“ zählt Sexualpartner, der „Dream Count“ durchlebte Lieben
Der Titel ihres TED-Talks „We should all be feminists“ landete auf T-Shirts des High-Fashion-Labels Dior, nachdem ihr Auftritt Pop geworden war, als Beyoncé ihre Stimme 2013 in den Song „Flawless“ hinein sampelte. Neben der ikonischen Songzeile „I woke up like this“ ertönten Chimamanda Ngozi Adichies Sätze: „Warum bringen wir Mädchen bei, eine Ehe zu wollen und bringen Jungs nicht dasselbe bei? Wir erziehen Mädchen dazu, einander als Konkurrentinnen zu betrachten, nicht um Jobs und Errungenschaften, was ich gut fände, sondern um die Aufmerksamkeit von Männern.“
Adichies Ruhm beruht aber auch auf ihren Romanen, die in Geschichten und Erzählweise aufgespannt sind zwischen der sozialen und geistigen Welt Nigerias, wo sie aufgewachsen ist – und den USA, wo sie studiert hat. Nach „Americanah“, dem ebenfalls 2013 erschienenen letzten Roman, hat es jetzt über elf Jahre bis zum nächsten gedauert. Weil sie Essays darüber geschrieben hat und berühmt genug ist, dass Medien in aller Welt über private Details ihres Lebens berichten, kann man wissen, dass sie inzwischen Kinder bekommen, den Tod ihrer Eltern betrauert und ihre eigenen Scharmützel in den Kulturkämpfen der vergangenen Jahre überstanden hat. In der kommenden Woche erscheint nun also weltweit am gleichen Tag Chimamanda Ngozi Adichies neuer Roman.
Auch die deutsche Übersetzung heißt englisch „Dream Count“, ein Wortspiel mit dem Ausdruck „Body Count“, der im Krieg für die Zahl getöteter Gegner und in der Liebe für die Zahl der Sexualpartner steht. Die Figuren des Romans sind drei Freundinnen in ihren Vierzigern aus Nigeria, zwei leben in den USA, eine in Abuja, und eine Haushälterin aus Guinea, die für eine von ihnen arbeitet. Chiamaka heißt die Protagonistin, die zuerst zu erzählen beginnt. Im ersten Lockdown der Corona-Pandemie fängt sie an, „mein Leben zu durchforsten“, und zählt sich selbst ihre bisherigen Träume auf. Auch die Träume der anderen Frauen kommen zur Sprache. Die Enttäuschung dieses Buches, um das gleich zu sagen, besteht nun darin, dass diese Träume ganz überwiegend mit Männern zu tun haben. Es geht um heterosexuelle Lieben, aus denen nichts wurde.
Nach Jahrtausenden der Missachtung von Frauenleben kann man jetzt nicht genug darüber reden
Sieht man sich Adichies Rede „We should all be feminists“ jetzt noch einmal an, könnte man meinen, sie schreibe sie mit dem Roman „Dream Count“ weiter, um die darin angeprangerten Geschlechterverhältnisse narrativ auszumalen. Die hergebrachte Warnung zum Beispiel, eine Frau, die mehr Geld hat, könne die Männlichkeit ihres Partners beschädigen, kommt in einer der Erinnerungen von Chiamaka vor. Dass sie aus einer reichen nigerianischen Familie kommt, ermöglicht ihr, als Reisejournalistin zu leben, obwohl sich ihre Reportagen schlecht verkaufen.
Denn ihre Reisen bestehen nur darin, in teuren Hotels abzusteigen und sich mit Taxis durch die Landschaft fahren zu lassen. Als sie einen afroamerikanischen Intellektuellen kennenlernt, fühlt sie sich von seiner Unnahbarkeit angezogen und gemeindet ihn in ihren Lebensstil ein, zahlt ihm Urlaube und Gadgets. Er lässt es sich gefallen, verwandelt seine Verlegenheit aber immer mehr in Verachtung gegen sie. Die rechtfertigt er mit gebildeten Anspielungen auf den Sklavenhandel, der seine Vorfahren nach Amerika gebracht habe, während ihre womöglich davon profitiert hätten.
Die faszinierende Seite von Adichies Literatur, auch in diesem Buch, besteht darin, wie sie von dem erzählt, was man auf Amerikanisch „Code Switching“ nennt: Wie Chiamaka und die Menschen um sie herum die Regeln und Sprachen ihrer Länder, Schichten, ethnischen Gruppen, Familien, Freundeskreise und Berufe wechseln. Es gibt unter diesen erzählerischen Bedingungen keine starren Identitäten und Perspektiven. Ein anderer, berühmt gewordener TED-Talk von Adichie hieß „The danger of a single story“: die Gefahr, einem festgefahrenen Narrativ vom Frau- oder Mannsein, Afrikanerinnen und Westlern zu erliegen, ist in diesem Roman ostentativ gebannt. Die Traumbilanz der Frauen fällt auch unterschiedlich aus.
Ein Nachdenken über weibliche Biografien, das mit Konstellationen verschiedener Figuren arbeitet, hat es in der Literatur der letzten Jahre häufig gegeben: in Marie Ndiayes zwischen Dakar und Frankreich spielendem Roman „Drei starke Frauen“ von 2009, Bernardine Evaristos Generationenkaleidoskop „Mädchen Frau etc.“ von 2019 etwa, in der deutschsprachigen Literatur in Sasha Marianna Salzmanns „Im Menschen muss alles herrlich sein“ von 2021 und Jackie Thomaes „Glück“ aus dem vorigen Jahr. Es sind eben Jahrtausende der Missachtung von Frauenleben, ihres Alltags, ihrer Körper und Lebensentscheidungen aufzuholen. Jetzt kann man gar nicht genug Geschichten darüber erzählen.
In Adichies Roman erstickt allerdings die Verschiedenheit der Figuren etwas an der Gleichförmigkeit ihres ausführlichen Erzählstils. Was erst sanft angedeutet scheint, wird dann doch noch explizit erklärt. Und die auf Dauer des Buches beschwerliche Aneinanderreihung von Männergeschichten ihrer Heldinnen dekoriert Adichie mit Sätzen, die man früher auf Kissen gestickt oder in Küchenkalender geschrieben hätte, und die heute auf „Kacheln“ oder „Slides“ der sozialen Medien landen können: „Der Mangel an Liebe lässt uns zu Unrecht an Kompetenz glauben, denn er gräbt schmerzhafte Löcher in uns, die wir mit allem stopfen, was uns vermeintlich Trost verspricht.“ Was immer das bedeutet, es klingt gewichtig und enthält gute Schlagwörter. „Wir sind verliebt, und dann sind wir nicht mehr verliebt. Wohin verschwindet die Liebe, wenn wir aufhören zu lieben?“ Von solchem Tiefsinn ist dieses Buch voll.
Eine seiner Figuren fällt aber aus der Reihe: Die Haushälterin Kadiatou, die aus Guinea kommend in den USA Asyl beantragt und mehrere Jobs hat, unter anderem in einem Hotel. Dort passiert ihr genau das, was in der Realität Nafissatou Diallo berichtet hat, als sie den französischen Politiker Dominique Strauss-Kahn 2011 der Vergewaltigung bezichtigte. In einem Epilog, den es sicher auch um der juristischen Absicherung ihres Buches willen gibt, schreibt Adichie, sie kenne Diallo nicht und habe sich die Biografie und Gefühlslage der Figur vollkommen ausgedacht. Nur die Beschreibung des Übergriffs und wohl auch der folgenden, erniedrigenden Beweissicherung lehnt sie „so nah wie möglich an Nafissatous Schilderung“ an.
Das Strafrechtsverfahren gegen Strauss-Kahn in dieser Sache wurde fallen gelassen, nachdem die Staatsanwaltschaft die Glaubwürdigkeit der Zeugin Diallo untergraben hatte. Vor einem Zivilgerichtsprozess einigte man sich. Adichie schwebt ausweislich ihrer Nachbemerkung eine Art künstlerischer Gerechtigkeit vor, die sie für Diallos Aussage herstellen will: „als Geste der zurückgegebenen Würde“. Im Figurentableau ihres Romans wirkt die Episode allerdings wie eher künstlich dazugepinselt.
Zumal dieser eine Fall in einer Romanhandlung, die zu Beginn der Pandemie, also 2020 spielt, auffallend deplatziert wirkt. Denn die Strauss-Kahn-Affäre in den Jahren 2011 und 2012 war zwar eine Art MeToo-Fall, allerdings einige Jahre, bevor diese Bewegung nach dem Weinstein-Skandal 2017 ihren Namen bekam. Sie wurde dementsprechend in einem früheren gesellschaftlichen Klima verhandelt. Man spürt im Kontrast auch, wie viel Zeit vergangen ist, seit man heterosexuelle Verhältnisse zu einem liberalen Spiel stilisieren mochte, bei dem einfach nur unsere Herzen im Einsatz sind.
Schon in der Diskussion um Strauss-Kahn aber spätestens bei den um das Schlagwort „MeToo“ herum bekannt gewordenen Fällen ging es dann sehr konkret um Macht und Ausbeutung. Diese Debatte kommt in dem Roman nicht weiter vor und auch nicht der Mann, der zur Zeit der Handlung US-Präsident war und es jetzt wieder ist, weil es ihm in den Augen seiner Wähler nicht schadet, wie viele Frauen ihm sexuelle Übergriffe vorwerfen. Dieser Abgrund in der historischen Umwelt ihres Romans und Adichies erfolgsverwöhnter Drang, dennoch Erbauliches über starke Frauen zu erzählen, kommen nicht zu einem plausiblen Bild zusammen.