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Abartig gut
Der große Publikumsverlag Rowohlt bewirbt auf seiner Website den neuen Erzählungsband ihres Ein-Mann-Bestseller-Schlachtschiffs Heinz Strunk mit folgendem bemerkenswerten Zitat: „Short Storys sind öd? Ja, oft. Doch nicht jene von Heinz Strunk.“ Das Zitat ist selbst eine gelungene Short Story, die auf kürzester Strecke das tragische Schicksal der kurzen Form auf dem deutschen Buchmarkt verhandelt.
Wie es schon losgeht: „Short Storys sind öd“? „Ja, oft“? Was in Wahrheit öd ist, und vielmehr oft: der Roman. Warum muss jede Kleinigkeit, jeder Aphorismus, jeder Tweet, jede bei irgendeinem Newcomer-Lesewettbewerb vorgetragene Erzählung zwingend zu einer epischen Erzählung von 200 Seiten (und oft noch mehr) aufgeblasen werden, um es in ein Verlagsprogramm zu schaffen?
Dabei funktioniert die kurze Form auch auf dem Markt immer wieder gut: zum Beispiel die bis zur Besinnungslosigkeit reduzierten Krimigeschichten des schriftstellenden Juristen-Philosophen Ferdinand von Schirach. Aber auch gute Storys wie die von Karen Köhler („Wir haben Raketen geangelt“).
Aktuell zeigt vor allem Heinz Strunk: Die Kurzgeschichte muss nicht bis ans Ende des geschriebenen Worts ein Schattendasein führen. „Kein Geld Kein Glück Kein Sprit“ (aktuell Platz fünf der Spiegel-Bestsellerliste) ist der dritte Kurzgeschichtenband im aus allen Nähten platzenden Werk des geradezu lächerlich fleißigen Hamburger Schriftstellers. Die beiden Vorgängerbände „Das Teemännchen“ und „Der gelbe Elefant“ waren beide ziemlich erfolgreich, trotzdem hat der Verlag offenbar noch immer das Gefühl, sich bei seinem Publikum vorab entschuldigen zu müssen, schon wieder nur ein paar Erzählungen im Programm zu haben. Nicht öd, versprochen!
Mach langsam, denkt man zugewandt, Geld hast du doch genug
Vorsichtig, beinahe ein bisschen sorgenvoll nimmt der Rezensent, ein bekennender Strunk-Superfan, das Buch zur Hand. Der letzte Roman „Zauberberg 2“ war seltsam schwach. Klar, Geschmackssache, andere haben es anders gesehen. Vielleicht war die erzählerische Grundhaltung einfach ein bisschen zu depressiv für diesen pausbäckig-lebensbejahenden Leser hier. Jedenfalls: Man hatte ein wenig Sorge, dass der Lieblingsschriftsteller mit der selbst auferlegten, enormen Publikationstaktung nicht mehr ganz Schritt halten kann.
Jedes Jahr mindestens ein, manchmal zwei Bücher, dazu Theaterstücke, Fernsehserien, Hörspiele und so weiter. Mach langsam, denkt man zugewandt, Geld hast du doch genug, achte lieber darauf, dass dir nicht der Sprit ausgeht. Aber wie es bei Menschen ist, die im Leben längst nicht immer Glück gehabt haben, scheint bei Heinz Strunk die Angst vor der vollständigen Auflösung nach einem Jahr ohne Veröffentlichung größer zu sein als das Ruhebedürfnis.
Beim Lesen stellt sich allerdings sehr schnell heraus: Die Geschichten sind alles andere als öde. Sie sind – doch, doch – genial. Gott sei Dank. Das beste Stück Strunk-Belletristik seit seinem herausragenden (und unterschätzten) Roman „Es ist immer so schön mit dir“. Je älter man wird, desto seltener geschieht es, dass man vor Lachen weint, aber bei der Lektüre der Erzählung „Der Riese in der Holzklasse“, ausgerechnet während eines Mittelstreckenflugs von Lissabon nach München, ist es mal wieder so weit.
Ein riesiger Mann muss sich in größter Not in einen viel zu engen Sitz falten, weil eine versehentliche Doppelbuchung dazu führt, dass eine andere, deutlich kleinere, deutlich bösartigere Passagierin auf seinem eigens reservierten Premium-Economy-Platz sitzt und nicht dran denkt, diesen freizugeben. Wie es sich für Heinz Strunk gehört, wird dann alles schlimmer und noch schlimmer und immer schlimmer, bis zur völligen Entsetzlichkeit. Wie früher bei Kafka: Wenn man sich die Dramaturgie in einem X-Y-Diagramm vorstellt, geht die Kurve beim Nullpunkt los und fällt dann exponentiell ab.
In einer anderen Erzählung öffnet ein Mann während eines Balletts neben seinem Date aus Versehen und für den ganzen Saal gut hörbar ein Porno-Tab auf dem Smartphone: „Die Situation ist so abartig, dass sie ins Unwirkliche kippt.“ Außerdem: Ein gealterter Filmstar wird bei einem Gruppenurlaub in einem Alpenhotel zum alle in den Wahnsinn treibenden fünften Rad am Wagen. Eine Frau hat so schlimmen Schluckauf, dass sie sich umbringen will, aber gerade, als sie von der Brücke springen will, geht der Schluckauf weg. Die Frau sagt: „Nun bleibt mir gar nichts mehr.“ Die kürzeste Geschichte mit dem Titel „Verschmelzung“ hat gerade mal 117 Zeichen und ist damit kürzer als die meisten Social-Media-Posts. So geht moderne Literatur.
Dass auch Strunks Kurzgeschichten, und nicht nur seine Fortsetzungsromane deutscher Klassiker, es inzwischen verlässlich auf diverse Bestsellerlisten schaffen, ist so erfreulich wie folgerichtig. Es ist der Ertrag von jahrzehntelanger, harter literarischer Arbeit bei gleichbleibend hoher, mitunter weiter steigender Qualität.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung forderte anlässlich von „Kein Geld Kein Glück Kein Sprit“ den Büchner-Preis für Strunk. Das passt gut, weil auch schon Georg Büchner sein kurzes Leben den kurzen Texten widmete. Ein Meister der Flugschrift, des Dramenfragments, des Pamphlets.
Wenn aber der Erfolg von Heinz Strunks Kurzgeschichten dazu führen sollte, dass in Zukunft auch ein paar Autorinnen und Autoren, die noch keine Bestseller geschrieben haben, sich trauen, ihren potenziellen Verlag davon zu überzeugen, dass diese oder jene schöne Miniatur nicht unbedingt zu einer wässrigen Buchstabensuppe aufgekocht werden muss, um publikationstauglich zu werden: Dann sollte man eher Georg Büchner posthum den Heinz-Strunk-Preis verleihen. Nur so herum wäre die Lebensleistung ausreichend gewürdigt. Nur die bescheidene Meinung eines Strunk- und Short-Story-Superfans.