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Wem nützt die Eskalation?
Die Behauptung, es gebe eine „Spaltung" der Gesellschaft, gehört zum Standardrepertoire der Zeitkritik – oft, ohne dass genauer geklärt würde, was damit gemeint ist. Sind die Einstellungen zu politischen Themen wirklich so stark polarisiert, auf welche Weise vergiften Feindbilder die Debatte? Und wie schafft es die harte, autoritär nationalistische Rechte gleichzeitig als Treiber wie als Profiteur, der Polarisierung zu wirken? Das sind die offenen Fragen für die wissenschaftliche Beobachtung gegenwärtiger Konflikt-Großwetterlagen.
Dazu liefert der Soziologe Nils C. Kumkar mit seinem neuen Buch „Polarisierung" jetzt einen analytisch glasklaren Beitrag mit erfreulich hohem Irritationswert. Kumkar untersucht nicht die gesellschaftliche Polarisierung als solche, etwa in den sozioökonomischen Verhältnissen oder bei politischen Streitthemen, sondern ihre Wahrnehmung und diskursive Bearbeitung: Wovon reden wir, wenn wir von Polarisierung reden?
Und weshalb reden wir so häufig darüber – genauer: Weshalb ist der Begriff der Polarisierung offenbar so ergiebig, um alle möglichen Konfliktlagen zu deuten? Kumkar versteht die Dramaturgie der Polarisierung als „kommunikatives Ordnungsmuster". Dessen Pole bilden aus Sicht des Soziologen eine Art Magnetfeld, das, einmal aktiviert, die gesamte Debatte strukturiert. Selbst wenn sich ein Großteil der Äußerungen in der „Mitte" verortet (wo immer das ist) und dezidiert von den Extremen absetzt, bewegen sich alle Wortmeldungen in diesem Magnetfeld. Noch die Abgrenzung von der Polarisierung verweist auf die Ausstrahlungskraft der Pole – und stärkt sie damit.
Richtet sich die Debatte an starken Gegensätzen aus, ist sie gleich viel übersichtlicher
Die Pointe an Kumkars origineller Analyse ist, dass er die Funktionsweise unterschiedlicher Kommunikationsräume (Social Media, Politik, Massenmedien) als Treiber der Polarisierungsdramaturgie beschreibt. Dadurch bekommt er in den Blick, dass die polarisierte öffentliche Auseinandersetzung nicht zwangsläufig ein Ausdruck gesellschaftlicher Großkrisen und feindseliger Einstellungen sein muss. Stattdessen dient die Polarisierung zum Beispiel als Aufmerksamkeitsverstärker, Interpretationsschema oder Mittel zur Komplexitätsreduktion: Richtet sich die Debatte an zwei entgegengesetzten Polen aus, ist sie gleich viel übersichtlicher.
Auch Konflikte sind in Kumkars Sicht nicht unbedingt ein Krisensymptom – sondern der Normalfall. Die in der politischen Auseinandersetzung ausgetragenen Interessensgegensätze etwa sind kein Grund zur Nervosität, sondern gerade ein Kennzeichen der liberalen Demokratie: Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine. Je gegensätzlicher die verhandelten Positionen, desto intensiver die Teilnahme des Publikums und damit die Integrationskraft der Debatte.
Das ist weniger abstrakt, als es klingt: Angesichts der populistischen Mobilisierung erreicht zum Beispiel die Wahlbeteiligung Rekordhöhen. Integration durch Konflikt – das ist eine für Kunkmars Argumentation typische paradoxe Volte. Zu ihr kommt er, weil er gut systemtheoretisch nach der Funktion der Polarisierung auf Social Media, in der Politik oder in Massenmedien fragt: Polarisierung nicht als Problem, sondern als Mittel zum Zweck.
Beobachtung der Beobachtung schafft die nötige Distanz
Zu Beginn des Jahres hat Kumkar gemeinsam mit dem Soziologen Uwe Schimank in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift einen Aufsatz zu den Perspektiven veröffentlicht, mit denen Soziologen Phänomene der gesellschaftlichen Polarisierung untersuchen: Als „Verbündete" einer Konfliktpartei, als moderierende „Schlichter" oder als müde abwinkende „Abklärer".
Wie in diesem Aufsatz begibt sich Kumkar auch in seinem neuen Buch wieder in die Rolle eines Beobachters zweiter Ordnung. Er beobachtet, wie mithilfe des Polarisierungsmagnetfelds gesellschaftliche Konfliktlagen beobachtet und kommuniziert werden. Seine Beobachtung der Beobachtung schafft die nötige Distanz und bringt etwas Abkühlung. In Kumkars Sicht ist Polarisierung kein Grund zur Panik, sondern hochfunktional und unvermeidlich. Die politisch interessante Frage ist für ihn nicht, „ob es Polarisierung per se gibt, sondern um welche Achse sich Polarisierung jeweils als Ordnung aufbaut". Politische Wirkung entwickelt, wer die Streitthemen setzt – und seien es alberne Petitessen wie die Verwendung geschlechtergerechter Sprache im amtlichen Schriftverkehr.
Damit knüpft Kumkar an zwei einflussreiche Veröffentlichungen der letzten Jahre an. Dass die allseits behauptete Spaltung „oft eher eine Redensart" als eine Tatsache sein könnte, vermuteten der Soziologe André Kieserling und der FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube schon vor drei Jahren in ihrem thesenwuchtigen Buch zum Thema. Die Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser landeten 2023 mit ihrem Buch „Triggerpunkte" einen Bestseller. Die dort ausgewerteten empirischen Studien liefern deutliche Indizien dafür, dass die Einstellungen der befragten Bundesbürger zu zentralen politischen Themen nicht eklatant auseinanderklaffen. Offenbar gibt es einen Minimalkonsens, der als selbstverständlich genommen und nicht weiter thematisiert wird, solange nicht neuralgische „Triggerpunkte" den Diskurs in die Luft jagen.
„Die extreme Rechte hat sich erfolgreich als eskalierend-negativer Pol der Polarisierung in Stellung gebracht."
Mau und seine Kollegen beschreiben eine „zerklüftete Konfliktlandschaft mit unterschiedlich verlaufenden Gräben". Die diversen, einander überkreuzenden Konfliktlinien ergeben gerade keine radikale Spaltung in einander feindlich gegenüberstehende Lager. Die Frage, weshalb die empirisch nicht gedeckte Spaltungsdiagnose trotzdem so attraktiv und die erlebte, subjektiv wahrgenommene Polarisierung so stark verbreitet ist, ist das Thema von Kumkars Buch.
Aber dabei bleibt er nicht stehen. Nachdem Kumkar im ersten Schritt mit dem Hinweis auf Polarisierung als „kommunikatives Ordnungsmuster" vorsichtig Entwarnung gegeben hat, nimmt er die rechtspopulistische Strategie „zur Erhitzung der Konfliktkommunikation" in den Blick – und da ist von Entwarnung dann keine Rede mehr. „Nicht die Polarisierung hat die Rechten stark gemacht, sondern die extreme Rechte hat sich erfolgreich als eskalierend-negativer Pol der Polarisierung in Stellung gebracht", lautet Kumkars Diagnose.
Diese Position der Fundamentalopposition nutzt Konflikteskalation als Selbstzweck: wir gegen alle anderen. Um eine Auseinandersersetzung in der Sache auf der Suche nach einer guten Lösung geht es dabei höchstens an der Oberfläche. Kumkar bezeichnet diese wirkungsvolle Strategie prägnant als „Polarisierung im Leerlauf".
Deshalb wirkt die gerne in Endlosschleife abgespulte Forderung, man müsse die AfD „inhaltlich stellen", so hilflos. Sie verkennt, dass für die AfD jedes Reiz- und Trigger-Thema vor allem Mittel zum Zweck der Polarisierung ist. Und Mittel zum Zweck können bei Bedarf durch andere Mittel zum selben Zweck ersetzt werden. Auch wenn kein einziger Migrant mehr nach Deutschland kommen sollte, wird sich das Polarisierungsunternehmen AfD nicht auflösen, sondern die Leerstelle mit anderen Feindbildern besetzen. Die von der AfD virtuos beherrschte Strategie kapert die Kommunikationsräume, indem sie deren eingespielte Polarisierungsdramaturgie radikalisiert und vor allem: für ganz andere Zwecke umnutzt.
Kumkar analysiert schlüssig die gefährliche Pointe dieser Strategie. Die von der AfD strategisch bewirtschaftete Polarisierung richtet sich nicht nur gegen ihre Debattenkontrahenten, sondern gegen die Debattenspielregeln an sich, gegen „die" Politik und „das System" als solche: Debattenteilnahme zum Zweck der Zerstörung des Debattenraums.