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Der Westen ist nicht an allem schuld
Da war dieser Vater. Unnahbar, abwesend, ein Mann voller Geheimnisse. Erst viel später fand Ines Geipel heraus, was er zwölf Jahre lang getan hatte. Ihr Vater reiste unter mehreren Tarnidentitäten als DDR-Spion durch Westdeutschland, Agent der so legendären wie berüchtigten Stasi-Auslandsspionage, der Hauptabteilung IV unter Markus Wolf. Aber es ist nicht so, dass er half, den Dritten Weltkrieg zu verhindern, oder als Stasi-James-Bond Heldentaten für ein, wenn auch irregeleitetes, Wertesystem vollbrachte. Nichts dergleichen. Er schnüffelte „Republikflüchtigen“ nach, etwa jener DDR-Kunstfliegerin, die 1976 ihren Partner in die winzige Pilotenkabine eines Sportflugzeugs zwängte und nach Bayreuth floh, mit dem Wind nach Westen. Die Berichte des Agenten nach Ostberlin über das Paar und viele andere Ausspähobjekte wirken so unendlich banal.
Aber die Tochter sieht das anders.
Ihr Urteil ist scharf wie ein Seziermesser: „Das, was man das Böse nennt, ist nicht banal, nie, zu keinem Zeitpunkt. Es ist kalt, direkt, vital, aalglatt, gemein, entgrenzt. Es ist etwas mit hoher Energie. Etwas ohne Frau und Kinder. Es hat keine Tiefendimension und keine Bindung. Es ist das, was es ist. Mehr ist es nicht.“
So schreibt Ines Geipel in ihrem neuen Buch „Fabelland. Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück“. Das Werk ist, ähnlich wie „Umkämpfte Zone“ vor fünf Jahren, ein Kaleidoskop verschiedener Stilformen, Essay, Autobiografie, Sachbuch, alles in einem. Vor allem ist es klug, gedanklich präzise, stilistisch so anspruchsvoll wie wunderbar (kaum zu überlesen, dass die Autorin Professorin für Verskunst ist) und sehr persönlich. „Fabelland“ gehört zu den besten Büchern, die bisher über deutsche, speziell ostdeutsche Identität und Befindlichkeiten (und Befindlichkeitsstörungen) geschrieben wurden.
„Häuser und Straßen kann man sanieren. Aber das Denken und Fühlen?“
Und vor allem dient es als Gegengift zu all den Opportunisten, die das Gemeinsame leichtfertig missachten und immer nur das Trennende betonen. Zu den Propheten und Prophetinnen des neuen Selbstmitleids und der alten Feindbilder wie etwa Dirk Oschmann oder Katja Hoyer, die „den Westen“ für alle Übel verantwortlich machen und die Ostdeutschen zu dessen Opfern erklären. Eine Kolumnistin im Spiegel hat kürzlich die Wahlerfolge der AfD in den neuen Bundesländern sogar als „Aufstand der Fleißigen“ bezeichnet. Auf solche Torheiten muss man erst einmal kommen, aber in diesen Zeiten des Unverstands und der kopflosen Erregung werden sie mit dem Gestus der ganz großen Welterklärung hinausgeplärrt.
Ines Geipel hingegen plädiert für etwas viel Konstruktiveres als das Denken in Identity-Schubladen. Sie möchte „eine Doppel-Diktatur ausatmen“, wie sie kürzlich sagte. Sie ist selbst eine Tochter des Ostens; 1960 in Dresden geboren, gehörte sie Anfang der Achtzigerjahre zur Leichtathletik-Nationalmannschaft der DDR und studierte anschließend in Jena Germanistik. Dort wagte sie es im Juni 1989, gegen das Massaker an systemkritischen Studenten auf dem Platz des Himmlisches Friedens in Peking zu protestieren, indem sie mit einer Freundin ein Plakat ans Schwarze Brett des Instituts pinnte, es drückte „Solidarität und Trauer“ aus. Ein staatsgefährdender Akt aus Sicht der SED-Diktatur, Geipels Karriere war zu Ende, bevor sie begonnen hatte.
Kurz danach floh sie über Ungarn in den Westen. Den Fall der Berliner Mauer erlebte sie als Aushilfe in einer Darmstädter Weinstube und als so „großes, ja unwahrscheinliches Glück“. Dann traf sie ihre Freundinnen und Freunde aus der DDR wieder: „Umbrüche, Ortlosigkeiten. Die Geschichten erzählen von etwas, was man nicht in den Medien las. Die Welt war offen, aber etwas schien sich nach innen zu verschieben.“
Was dieses Buch so besonders macht, ist paradoxerweise eigentlich etwas sehr Naheliegendes. Nur ist es selten so gründlich zu Ende gedacht worden wie in „Fabelland“: Ines Geipel untersucht die Nachwirkungen von 56 Jahren Diktatur, von 1933 bis 1989, auf die Menschen, die diese lange Zeit im Osten erlebt haben und heute dort vielfach den Diskurs prägen. Denn: „Häuser und Straßen kann man sanieren. Aber das Denken und Fühlen?“
Der Westen brauchte Zeit, sehr viel oder auch viel zu viel Zeit, um die Vergangenheit von Auschwitz und Vernichtungskrieg „anzunehmen“ oder „zu bewältigen“, wie dieser sehr schmerzvolle Prozess der inneren Wahrheitssuche gern akademisch neutral genannt wird. Er verlief nicht ohne Rückschläge, nicht ohne blinde Flecken und Widersprüche, aber es gab ihn und gibt ihn immer noch. Im Osten gab es ihn nicht – nicht als ehrlichen Diskurs. Stattdessen erklärten die Kommunisten der SED ihre eingesperrten Staatsbürger zu Siegern der Geschichte, während „die Wurzeln des deutschen Faschismus“ allein im Westen munter weiterwüchsen.
In den Familien aber, zwischen den Generationen, und erst recht im öffentlichen Raum der DDR war jeder Versuch, dem Denken und Fühlen, dem Handeln und der Mittäterschaft unter dem Nationalsozialismus nachzuspüren, fast unmöglich. Im Staat, der sich als antifaschistisch definierte, herrschte ein großes Schweigen über den Faschismus. Aber er hatte auch hier ganz real existiert, auf ostdeutschem Boden, mit Erduldenden, Mitläufern, Mittätern und wenig, aber umso tapfererer Gegenwehr. Und wie schwer es ist, darüber zu reden, schreibt Ines Geipel: „Wie den notwendigen Blick im Nachhinein auf das richten, was verweigert, verletzt, verhindert wurde … Der Osten als Land der preisgegebenen, ausgesetzten, uneinholbaren Erfahrung. Die Rede ist von mehr als 50 Jahren Diktatur.“
Die Ressentiments gegen das politische System „des Westen“ liegen heute offen
Aber nur, glaubt die Autorin, die heute an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch lehrt, nur wenn man sich dieser Geschichte stellt, gäbe es eine Chance, die neue Wut im Osten, den Zorn, die Gefühle der Zurücksetzung mildern zu können oder gar zur Episode werden zu lassen. In Thüringen haben bei der jüngsten Landtagswahl mehr als die Hälfte der Wählerinnen und Wähler für AfD und BSW gestimmt, zwei sehr unterschiedliche Parteien: die eine laut Verfassungsschutz gesichert rechtsextrem, die andere vorgeblich links, aber beide durchdrungen von ähnlichen Ressentiments gegen das politische System „des Westens“ und damit dessen demokratische Werte. Eine gängige Erklärung für dieses erstaunliche Phänomen der Geringschätzung, ja Verachtung einer Freiheit, für welche viele Ostdeutsche doch 1989 unter erheblichen Risiken auf die Straße gegangen waren, lautet: Es ist das Gefühl der Bevormundung, das Menschen in den neuen Ländern in Scharen zu den Populisten treibt.
Aber woher kommt diese Bevormundung? Ines Geipel lehnt derlei Küchenpsychologie rigoros ab: Die Ostdeutschen, schreibt sie, haben sich tatsächlich im Herbst 1989 „aus einem andauernden Bevormundungsstatus selbst entlassen“ – aber nur, „um im nächsten zu landen“. Doch diese Bevormundung komme „nicht von außen, aus dem Westen“, wie so viele glauben machen wollen: „Sie kam von innen.“ Bevormundet sind die Ostdeutschen vor allem von der „politisch motivierten Gedächtnisumschreibung, dem eminenten Nein gegenüber der Einheit und dem Westen, der verleugneten DDR, dem Weiterwirken ihres Stils, ihrer Logik, ihrer Gewalt, der Retraumatisierung ihres Binnenkollektivs, ihrem Aufenthalt im alten Bann“ – kurz „dem Gift nach dem Umbruch“.
Nur deshalb gelinge es heute rechten Ressentiments, so rasch und geschmeidig anzudocken an die gewohnten Ressentiments von links. Wie das Gift wirkt, beschreibt Ines Geipel an manchen Beispielen, am eindrucksvollsten am Protest der Kalikumpel von Bischofferode 1993 gegen die Schließung ihrer Industriebetriebe. Mitleid und Anteilnahme waren ihnen gewiss, ein nackter Kapitalismus schien eine Lebensform zu bedrohen. Ganz vorn bei den hungerstreikenden Arbeitern erblickte Ines Geipel einen alten Bekannten. Er trug nun einen gelben Schutzhelm und machte ein wütendes Gesicht. Dieser Mann war Dieter Strützel, einst einer ihrer Lehrer am Institut für Germanistik in Jena, „ein wuchtiger, unüberhörbarer Mann“, ein „Vollideologe und Stalinist“, der Dozent, der „mir im Unifahrstuhl meinen Walkman vom Kopf zerrte, weil das Miniding in seinen Augen eine üble Sache des Klassenfeindes war“.
„Das alte Jahrhundert ist zurück, das Bipolare, das Autoritäre, der Hass, die Kriege.“
Jetzt stand Strützel wie ein Arbeiterführer der Gründerzeit vorn in den Reihen der Männer von Bischofferode, die um ihren Job und um ihre Welt bangten und beides verlieren würden. Er freilich war inzwischen Vizechef der SED-Nachfolgetruppe PDS in Thüringen und betrieb das alte Spiel: „Hier konnte man Flagge zeigen, den Kümmerer spielen, sich an die vorderste Front stellen. Hier konnte man die Geschichte überschreiben, sich vom Stigma der Diktaturpartei befreien. Hier ging es darum, das öffentliche Narrativ zu manipulieren.“
Dieter Strützel ist lange verstorben, aber der Versuch, die Geschichte der DDR-Diktatur durch einen neuen Opfermythos zu überschreiben, hat seither bestürzende Erfolge erzielt. Und wer ihm und seinesgleichen folgt, „weiß das übersteuerte Erinnerungsfeld samt hysterischem West-Bashing effektvoll zu nutzen“, schreibt Ines Geipel. Dabei ist sie beileibe nicht unkritisch mit Westdeutschland oder dem Verlauf des Einheitsprozesses von 1989, der Überheblichkeit und Ignoranz vieler dort. Aber ausschlaggebend für die gegenwärtige Krise der Demokratie in den ostdeutschen Bundesländern ist all das für sie nicht.“
Für ausschlaggebend hält sie die niemals aufgearbeitete Diktatur in den Biografien und die Fabeln, die heute darum gestrickt werden: „Jedes Land lebt von Fabeln. Es gibt aber ein paar, die nichts taugen. Sie sind nicht hilfreich. Wir haben nichts in einem müßigen Spaltungssyndrom zu suchen. Es ist keine Zeit dafür. Das alte Jahrhundert ist zurück, das Bipolare, das Autoritäre, der Hass, die Kriege.“
Daraus spricht auch die Zuversicht, ein neues Jahrhundert über das alte siegen zu lassen. Ost-Nostalgiker von rechts und links werden sich genau darum sehr an diesem Buch stoßen. Das ist sehr gut so. Denn dieses Buch bringt Licht in die dunklen Räume der Erinnerungskultur. Es kam genau zur richtigen Zeit.