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Letzte Worte vor dem Verstummen
„Essen, Urin, Scheiße, diese Geruchsmischung schlägt einem entgegen, sobald man den Fahrstuhl verlässt.“ Die auf schonungslos knappe Protokolle ihres Lebens spezialisierte Nobelpreisträgerin Annie Ernaux hat die letzten drei Lebensjahre ihrer an Alzheimer leidenden und 1986 gestorbenen Mutter in gelegentlichen Tagebuchnotizen festgehalten. An eine Publikation hat sie lange nicht gedacht, sie hat die Mutter aber direkt nach deren Tod in „Eine Frau“ porträtiert.
Erst elf Jahre später wagte Ernaux 1997 eine Publikation der Texte, „wie ich sie geschrieben habe, in der Fassungslosigkeit und der Erschütterung, in der ich mich damals befand“. Jetzt erst erschient dieses 100 Seiten dünne Tagebuch auf Deutsch, kühn als Roman angekündigt, der im Original als Zitat ausgewiesene Titel „Je ne suis pas sortie de ma nuit“ (Ich bin nicht herausgekommen aus meiner Nacht), es ist der letzte Satz, den Ernauxs Mutter aufgeschrieben hat, lautet in der Übersetzung aktivistisch „Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus“.
Objektiv wie Gustave Flaubert, aber sehr viel lakonischer erzählt Ernaux von der Krankheit der Mutter, Alzheimer ist das große Schreckgespenst der Wohlstandsgesellschaft. Der langsame körperliche und geistige Verfall, Gegenstände gehen verloren, bis hin zu Armbanduhr, Brille und Gebiss, die hemmungslose Lust an Schokolade und Süße, die Aufgabe jeder Scham, die Entindividualisierung im Heim: Alles ist Verlust, der Schrecken darüber wird in Sprache eingehüllt, wirkt aber gerade deshalb gewaltig.
Mutter und Tochter sind untrennbar verwoben, die Beziehung wird schonungslos seziert
Mit dem Verfall geht einher ein stets an schlimmsten Schmerz heranreichendes Eintauchen in die immer intensiver werdende Beziehung zwischen Tochter und Mutter. Ernaux-Leser kennen die Frühgeschichte der beiden, etwa aus „Erinnerung eines Mädchens“. Die eigene Autobiografie ist zwar immer der Steinbruch für Ernauxs Schreiben, ihre Methode ist aber immer eine Art Einkochen, ein Reduzieren aufs Wesentliche.
„Beim Schreiben darauf achten, mich nicht meinen Gefühlen hinzugeben.“ Ernaux reiht Aphorismen aneinander, schnörkellos, nie eine Erklärung oder Trost bietend, nie hobbypsychologisierend. Die niemals sentimentalen, kahlen und kurzen Sätze sind dennoch von grandioser pathetischer Wucht. „Ich wurde geboren, um meine tote Schwester zu ersetzen. Also habe ich kein Ich.“ Mutter und Tochter sind untrennbar miteinander verwoben, die Beziehung und Eigenart der beiden wird schonungslos seziert. „Sie betonte immer ihre körperliche Stärke“: Ernaux denkt an die von der Mutter erhaltenen Ohrfeigen, nennt sie „eine rabiate Frau, mit einem einzigen Erklärungsansatz, der Religion“, eine Frau, „die sich nie erniedrigen lassen wollte“, die ihr Stolz anerzogen hat, die alle Grenzen ablehnte. Bei sich selbst konstatiert Ernaux einen Sadismus, den sie an der Mutter auslebt und vor dem ihr graut. Sie hat Schuldgefühle, bald muss sie die Mutter füttern und fürchtet sich davor, ihr bald die Windeln wechseln zu müssen, noch mehr fürchtet sie ihren Tod. Der Leser ist, ohne je Voyeur zu sein, ganz nah dran an diesem existenziellen Drama: „Sie ist meine Mutter und sie ist es nicht mehr.“
Obwohl der Tod immer präsent ist, ist der Tod der Mutter dann doch ein Schock, für Annie Ernaux wie für den Leser: „Sie ist gestorben. Ich bin immens traurig. Seit heute Morgen weine ich …. Die Zeitrechnung hört auf, ja … Sie war mir verrückt lieber als tot.“ Schmuckloser geht es nicht, unprätentiöser, die Übersetzung von Sonja Finck bleibt ganz nah an diesem Stil kurz vor dem Schweigen. Ist das noch oder schon Literatur? Oder ist nur so etwas Literatur? Ernaux hadert immer wieder mit dem Schreiben, gerade in diesem Buch, das sich hineinkrallt bis tief unters Bewusstsein des Lesers. Das Schreiben über die Mutter wirft ihr grundsätzliche Fragen auf, welche wird nicht gesagt. Dann heißt es einmal „Literatur kann gar nichts.“ Und später: „Was ich hier schreibe, ist keine Literatur.“