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Liebesgrüße aus der Geriatrie
Am Geburtenjahrgang 2007 lässt sich der ganze Wahnsinn in besonderer Pracht sehen. Als er im Jahr 2015 gerade acht Jahre alt geworden war, kamen eine knappe Million Geflüchtete ins Land. Untergebracht wurden sie unter anderem in Turnhallen (nicht etwa in Opernhäusern), die damit nicht mehr fürs Fußballspielen frei waren. Die neuen Kinder berichteten dafür von ihren traumatischen Kriegserfahrungen. Außerdem ließ sich nun endgültig nicht mehr ignorieren, wie marode Schulen und Bildungssystem waren. Und sind.
Fünf Jahre später kam dann die Pandemie, und obwohl die Kinder am wenigsten gefährdet waren, richteten Lockdown, geschlossene Schulen und das, was man hierzulande ernsthaft digitalen „Unterricht“ nannte, zum Teil große Verheerungen an ihrer Entwicklung an. Besonders natürlich bei sozial Benachteiligten. Corona ging schließlich nahtlos in Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine über. Dazu: Energiekrise, Inflation, von alldem im Schnitt deutlich gestresste bis überforderte Eltern. Der Druck auf das Bildungssystem erhöhte sich weiter, und zur Belohnung redeten nun alle von Kriegssorgen, Sondervermögen für die Bundeswehr und einer in diesem Zusammenhang für einen 17-Jährigen sicher sehr beruhigenden Wiedereinführung der Wehrpflicht.
Anders gesagt: Wer 2007 geboren wurde, kennt in der Hauptsache Krisen und eine Gesellschaft, die noch nie funktioniert hat. Und das alles war dieser Gesellschaft so egal wie die Klimakatastrophe. Bis die Krisengeneration bei der Europawahl plötzlich komische Parteien wählte.
Nutzlose AfD-Lösung für den demografischen Wandel: Deutsche Kinder für eine „ethnisch-kulturell“ homogene Gesellschaft
Die eher gute Nachricht in diesem Zusammenhang ist nun, dass man Kinder eigentlich nicht mal sonderlich mögen muss, um ihre Rechte stärken zu wollen. Es genügt bereits ein rudimentäres Interesse daran, dass diese Gesellschaft irgendwann wieder etwas reibungsloser läuft. Und ganz allgemein noch etwas weiterbesteht. Immerhin.
Die eher schlechte Nachricht ist, dass die AfD sich an ein paar Stellen sehr explizit für Kinder interessiert. Nicht als Subjekte, nicht als Träger von Rechten, nicht als Akteure, also Menschen, die mitreden und mitgestalten sollen, sondern als Objekt ihrer völkischen Ideologie.
Den demografischen Fehlentwicklungen in Deutschland, so steht das bereits im Grundsatzprogramm der Partei aus dem Jahr 2016, müsse entgegengewirkt werden. Die „volkswirtschaftlich nicht tragfähige und konfliktträchtige Masseneinwanderung“ sei dafür aber kein geeignetes Mittel. Biopolitisches Argument: „Dass die Geburtenrate unter Migranten mit mehr als 1,8 Kindern deutlich höher liegt als unter deutschstämmigen Frauen, verstärkt den ethnisch-kulturellen Wandel der Bevölkerungsstruktur.“ AfD-Lösung: Es müsse „mittels einer aktivierenden Familienpolitik eine höhere Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung als mittel- und langfristig einzig tragfähige Lösung erreicht werden“.
Man erkennt die Größe und Komplexität eines Problems ja leider oft daran, wie simpel die angeblichen Lösungen der Populisten daherkommen.
Deutsche Kinder also als völlig nutzloser Ansatz gegen das, was wir immer noch so gemütlich als demografischen Wandel bezeichnen – obwohl demografische Katastrophe es leider inzwischen besser träfe: die Überalterung der Gesellschaft. Was – absolut nichts gegen Alte, kein Vorwurf an die Rentner – wahnwitzig viel Geld kostet. Das immer weniger Berufstätige bezahlen. So weit, so bekannt. Lang bekannt.
Ein Viertel des Bundeshaushalts geht in den Zuschuss der Rentenversicherungsbeiträge
Genau genommen prognostizieren Wissenschaftler das alles seit den Siebzigern. Das ist ein halbes Jahrhundert. 50 Jahre, in denen das Thema stoisch ignoriert wurde. Weshalb es jetzt, da die Babyboomer in den Ruhestand gehen, ungebremst und endgültig Krater in den Haushalt schlägt. Nicht einmalig. Sondern jährlich.
In Zahlen: Von den etwa 477 Milliarden Euro, die der Bundeshaushalt im Jahr 2024 umfasste, gingen 127 Milliarden allein in den Zuschuss der Rentenversicherungsbeiträge. Den Zuschuss. Das ist mehr als ein Viertel. Und der eine Großverrat von ungefähr vier, die wir als Gesellschaft gegenüber den angeblich so geliebten Kindern begangen haben. Oder, für all jene, die es mit Kindern eben nicht so haben: an der Zukunft ebendieser Gesellschaft.
Die anderen Sünden an den kommenden Generationen wären – in zufälliger Reihenfolge: die verschleppten Verteidigungsausgaben, die ewig hintangestellte Klimapolitik und das geplünderte Bildungssystem. Die Infrastruktur – Bahn, Straße, Digitales – wäre natürlich auch noch zu nennen, das Pflegesystem sowieso, und auch an Wohnungen fehlt es ja massiv. Alles Bereiche, die über Jahrzehnte mit beinahe manischen Anstrengungen übersehen (Steigerungsform: belächelt) wurden. Alles Bereiche, die dafür jetzt mit perfektem Timing synchron brennend akut werden.
Oder, wie es im eben erschienenen Buch „Kinder – Minderheiten ohne Schutz“ der Wissenschaftler Aladin El-Mafaalani, Sebastian Kurtenbach und Klaus Peter Strohmeier heißt (in dem auch der Verweis auf „die 2007er“ steht): „Mehrere Schwellen wurden in der ersten Hälfte der 2020er-Jahre überschritten: Die ‚Friedensdividende‘ und die ‚demografische Dividende‘ sind aufgebraucht.“ Wir befinden uns demnach „am Ende einer historisch günstigen Phase, in der einerseits aufgrund einer langen Friedenszeit wenig für Rüstung und Verteidigung ausgegeben werden musste und andererseits sehr viele Menschen im erwerbsfähigen Alter relativ wenige im Renten- und Kindesalter finanzieren mussten.“ Zwischenfazit: „Diese Zeiten sind vorbei und sie kommen nicht wieder.“
Wäre das also schon mal beachtlich entspannt in den Graben gesetzt.
Der soziologische Fachbegriff, der sich für diese spezielle Form der Ignoranz entwickelt hat, heißt „Adultismus“ und meint ursprünglich das Machtungleichgewicht zwischen Erwachsenen und Kindern. Und weiter gefasst die konsequente Benachteiligung und Marginalisierung der Jungen. Aktuell beschäftigen sich unter anderem mehrere Bücher mit dem Thema. Neben dem genannten etwa Stefan Schulz’ im März erscheinendes „Die Kinderwüste – Wie die Politik Familien im Stich lässt“ (Hoffmann und Campe). Und „Wie wir die Rechte unserer Kinder stärken in einer Welt, die für Erwachsene gemacht ist, und warum das die Sache für alle besser macht“ von Eloise Rickman (die deutsche Ausgabe erscheint am 18. März bei Hanser). Letzteres im Vergleich etwas weniger empirisch, dafür vor allem auf individueller Ebene appellativer. Nicht von der Hand zu weisender Kern der Werke: Die (deutsche) Gesellschaft ist seit jeher blind für die Bedürfnisse und Rechte von Kindern und Jugendlichen.
Gar nicht so sehr aus Hass oder aktiver Missachtung. Eher aus strukturellen Gründen, also solchen, die tiefer reichen als das individuelle Handeln. Es stimmt ja meistens nicht, dass alles mit allem zusammenhängt. Aber hier stimmt es leider doch. Das macht das Thema so verteufelt kompliziert. Und die Lösungen der Populisten so brüllend unterkomplex.
In ein paar Jahren sind Rentner endgültig die stärkste Gruppe und entscheiden Wahlen
Grundsätzlich, das wäre eine der zentralen Thesen von Mafaalani und den anderen Autoren, lässt sich aber wohl sagen, dass Gesellschaften Kinder übersehen und marginalisieren, weil die eine derart winzige Gruppe geworden sind. Im vergangenen Jahr gab es mehr als doppelt so viele 60-Jährige wie Neugeborene. Bereits heute ist mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten älter als 53 Jahre, und das wird sich weiter zuungunsten der Jungen verschieben. In ein paar Jahren werden deshalb Rentnerinnen und Rentner die stärkste Wählergruppe sein.
Das bitte nicht allzu locker überlesen. Die Folgen sind potenziell immens: Künftig entscheiden zu größeren Teilen Menschen Wahlen, die die mittelfristigen Auswirkungen nicht mehr erleben. Das heißt freilich nicht, dass sie sich eine Politik gegen die Zukunft ihrer Enkelinnen wünschen. Im Gegenteil: Großeltern können und müssen etwa als Betreuer oder (Hausaufgaben-)Paten Teil der Lösung sein. Es ist aber gut möglich, dass sie die Bedürfnisse von Kindern schlicht nicht genug sehen. Der über Jahrzehnte männlich dominierte Bundestag hat schließlich auch nichts für Frauenrechte getan, obwohl ja alle Abgeordneten mindestens mal Mütter hatten.
Das dürfte die Zukunftslosigkeit, die die Welt nicht nur wegen der aktuell multiplen Krisen erfasst hat, weiter verschärfen. Und die Gegenwartsorientierung (demokratischer) Gesellschaften verstärken, die sich bei Ausgaben und Investitionen stark an Wahlzyklen und Legislaturperioden orientieren. Die Deutsche Bahn, nur zum Beispiel, ist ja nicht nur deshalb derart am Ende, weil nach Proporz ernannte CSU-Minister sie aktiv ruiniert haben. Sondern auch, weil es wenigstens unmittelbar mehr politischen Gewinn bringt, große Ausgaben etwa für Sanierungen zu verschieben.
Und hier nun der große, grelle Treppenwitz: Selbst ihre Eltern können die Interessen von Kindern kaum durchsetzen. Das liegt zum einen daran, dass sie eine deutlich weniger homogene Gruppe sind als etwa Autobauer, Solarenergiebetriebe oder Pharmaunternehmen. Es liegt aber noch mehr daran, dass sie selbst eine marginalisierte Minderheit sind. Um einen Gastbeitrag von Aladin El-Mafaalani und Baro Vicenta Ra Gabbert aus dem vergangenen Jahr zu zitieren: „Selbst, wenn sich alle Eltern von Minderjährigen in einem Verband zusammenschließen würden, wäre dieser um einige Millionen Mitglieder kleiner als der ADAC.“ Keine Pointe.