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Die Hoffnung? Muss man jetzt rauchen
Fühlen Sie sich nach einem durchschnittlichen Wochentag mit „vielen furchtbaren Eindrücken und undurchdringbarer Komplexität konfrontiert“? So jedenfalls beschreibt Carla Kaspari, geboren 1991, die Stimmung in ihrem neuen Roman mit dem gegenläufigen Titel „Das Ende ist beruhigend“ – jedenfalls die jener, die im „Außen“ leben, nicht im artifiziellen Schutz einer großen Kuppel. Wir schreiben das Jahr 2130: Die Sonne ist zum tödlichen Plasmaball geraten, die „3,5-Grad-Marke“ längst überschritten, ein Sack Kartoffeln kostet zwanzig Euro, und Finnland ist aufgrund seines mediterranen Klimas bekannt für guten Merlot.
Der Kunstgriff jedes guten Zukunftsromans ist natürlich, dass man ihn zuklappt und denkt: Ha! Ging es hier nicht vielleicht auch um unsere Gegenwart? Gerade stellen drei Autorinnen der 80er- und 90er-Jahrgänge in ihren Büchern – bei aller Unterschiedlichkeit – einer Zeit, in der so viel ins Rutschen gekommen ist, eine überraschend gemeinsame Diagnose: Wer künftig noch glücklich sein will, muss sich betäuben. Schlafen, dissoziieren, vielleicht auch psychedelisch träumen sind dann Techniken des Überlebens. Ging es in fiktiven Zukunftsszenarien nicht früher darum, gegen alle Widerstände eine Utopie zu erkämpfen?
So ein Katastrophenroman kann sich aber auch selbst als eskapistische Lektüre eignen: Der Mond verschiebt sich? Quallen überfallen Venedig? Endlich mal ein Problem, das man noch nicht aus der „Tagesschau“ kennt! Kasparis Buch lässt einen nicht so leicht davonkommen und versteckt in seiner Prämisse eine Anklage: Am Klimacrash der nahen Zukunft sind eben auch die jetzt lebenden Generationen schuld.
Und die Hoffnung? Muss man jetzt rauchen. „Pure Hope“ wird als biochemische Zigarette verkauft, damit das „bittere Gefühl des Endes und die absolute Hoffnungslosigkeit nicht durchbricht“. So zeigt der Roman auch, wie mühelos sich manche mit der Katastrophe arrangieren. Die Protagonistin Esther lebt eines der besten Leben, die es noch gibt, in „Spes I“, einem „Truman Show“-artigen Künstlerdorf in Norditalien, künstlich eingehegt als „Schutzraum für Talent und Kreativität“. Ein Ort, wie vom Filter in Pastell weichgezeichnet, von einer austherapierten und maximal achtsamen Künstlerszene bevölkert, die beim regionalen Wocheneinkauf so klingt: „Einen Moment halte ich inne, um dankbar zu sein für die qualitativ hochwertigen Lebensmittel in Spes I.“
Auf vergangene Jahrzehnte, in denen künstliche Intelligenz alle Kunst schuf, folgt in der Gegenwart dieser Zukunft der „Human Turn“, die wiederentdeckte Sehnsucht nach dem Menschlichen. Esthers Gemälde, auf denen stets zwei Sonnen zu sehen sind, entfalten eine solche Sogwirkung, dass die reichsten „Sponsoren“, die inzwischen Deutschland regieren, ihre Bilder als Opium für das Volk einsetzen. Hoffnung wird zur Waffe der Herrschenden, hier in klarer Abgrenzung zum Aktivismus: Alle sollen hoffen, niemand etwas tun.
Kann Kunst Hoffnung produzieren? Der Psychotherapeut und Autor Sina Haghiri sagte dazu dem SZ-Magazin: „Aus Kunst können wir alle machen oder ziehen, was wir wollen, zum Beispiel: Orientierung. Identifikation. Selbsterkenntnis.“ Also lieber ins Museum als zur Therapie? Kasparis Roman glaubt fest an diese Kraft der Kunst, persifliert gleichzeitig eine hippe Kunstszene, die während des Weltuntergangs in aller Seelenruhe Aperol trinkt. Für dieses Milieu findet sie eine feine, hypnotische Sprache, die im Ton an den frühen Leif Randt erinnert (besonders an dessen Roman „Schimmernder Dunst über Coby County“). Doch während bei Randt die Figuren glatt und kühl ausgeleuchtet bleiben, wie in einem Apple-Store, haben sie bei Kaspari mehr Herz: Esther wird auf der Suche nach der Wahrheit den Schritt aus der Kuppel wagen, sich auf dem Weg durchs vertrocknete Deutschland dem größtmöglichen Weltschmerz aussetzen: einer Reise nach Berlin.
Ganz anders kommt es in „Schweben“, dem Debütroman der 1989 geborenen Kulturjournalistin Amira Ben Saoud. Darin scheint die Welt klein geworden, seit die Menschen sich wegen der Klimakrise in kleine, abgeschottete Dörfer zurückgezogen haben. Wie in fast allen Zukunftsromanen gilt: Für parlamentarische Demokratie hat während des Weltuntergangs niemand mehr Zeit. Bei Kaspari regieren die Reichsten, in „Schweben“ ein autoritäres System, streng verboten ist die „Akkumulation von Wissen um das Draußen und Davor oder das Streben nach mehr“. Im Mittelpunkt der Handlung steht eine namenlose Frau in ihren Dreißigern, die für ihren Lebensunterhalt in die Rolle verschwundener Ex-Partnerinnen schlüpft, um Männern Trost zu spenden.
Das ist als Ausgangslage sicher traurig genug, um von einer Dystopie zu sprechen. Ein Genre, das auffällig oft von Frauen geschrieben wird, eignet sich doch der Widerstand gegen fiktive repressive Systeme als passende Allegorie auf feministische Kämpfe der Gegenwart. Die Protagonistin in „Schweben“ wird in mehrfacher Hinsicht unterdrückt, vom autoritären System und von den Männern, für die sie arbeitet. Während etwa in Margaret Atwoods „The Handmaid’s Tale“ fleißig die emanzipative Revolution geplant wird, ist „Schweben“ der Ausdruck einer großen Überforderung. Die Selbstaufgabe der Protagonistin geht so weit, dass sie ihren Körper für ihre Rollen verformt, selbst Beziehungen mit gewalttätigen Männern nachspielt. Nur im Schwimmbad findet sie „Ruhe und Schwerelosigkeit“.
Später lässt „Schweben“ seine Protagonistin tatsächlich in die Lüfte gleiten. Der Ton dieses Buches ist ruhig und sanft, das vorherrschende Gefühl die Dissoziation, die Flucht vor sich selbst. Ähnlich wie in Ottessa Moshfeghs globalem Bestseller „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“, über eine Frau, die sich zudröhnt und ein ganzes Jahr nur schlafen will. Vielleicht ist es diese empfundene Schwere einer jungen Generation, die „Schweben“ so gegenwärtig macht: Selbst die digitale Armbanduhr verschont einen nicht mit Eilmeldungen – bevor sie unschuldig rät, man solle doch lieber die Treppe statt den Aufzug nehmen. Längst gibt es mit „Nachrichten-Fatigue“ ein Wort für das Syndrom, ausgelöst von den Bildschirmen, die uns „multiple Krisen“ diagnostizieren, wo wir auch hinsehen.
Der Wunsch nach Leichtigkeit, gar einer Befreiung wird in „Schweben“ für niemanden erfüllt, die Dissoziation bleibt die vermeintliche Flucht aus dem Unausweichlichen. Die Welt geht unter, das mag schon sein, aber man würde sich vorher gern irgendwo kurz hinlegen. Oder wie der Komiker Bo Burnham in „All Eyes on Me“ singt: „You say the ocean’s rising like I give a shit / You say the whole world’s ending / Honey, it already did“.
Doch vielleicht geht die Welt nicht unter, vielleicht entsteht sie neu. Die Ost-Berliner Autorin Luise Meier, Jahrgang 1985, sucht die Antwort auf soziale Fragen in den Hyphen der Pilze. Im Jahr 2027 bricht in ihrem Roman das Stromnetz auf der ganzen Welt endgültig zusammen, es folgen die Lieferketten, das Internet, der Kapitalismus. Wie ein Myzel, das feine Geflecht der Pilzfäden, wächst in „Hyphen“ eine neue Gesellschaft heran – jenseits von Wettbewerb und hegemonialer Gewalt. Das ist alles schön und tut auch gar nicht weh, „weil die Sorge umeinander weniger braucht als die Aufrechterhaltung eines Staatsapparats“. Meier schreibt, wie sie es nennt, eine „semi-utopische Sozialfiktion“ und begreift die Krise als Chance. So stellen die Menschen, nachdem sie das Handy mal weglegen mussten, schnell eine „Zunahme von Selbstwirksamkeit und Sinn“ fest. Handy aus, Welt an: Eine gute Idee, die sich nicht ohne Hürden in einen guten Roman übersetzt.
Maja, eine der Heldinnen des Buches, reist durch Deutschland, dokumentiert als Chronistin eine neu formierte Gesellschaft und trifft etwa die junge Kiki, die Gedanken an Einwegverpackungen noch komischer findet als Benzinautos. Überdeutlich wird der Wunsch nach einer Holzhütte im Wald, der Rückkehr zum autarken Leben. Wenn dann Pilze nicht nur als Vorbild für ein Gesellschaftsmodell dienen, sondern auch als psychoaktive Droge konsumiert werden, ist man vollends im Kitschkommunismus angekommen. Das Buch, eher protokollartig erzählt, ist ein Gradmesser dafür, wie viel optimistische Großutopie in diesen Zeiten erträglich ist. Während Kasparis Roman sich tapfer in den Schmerz wirft, Saouds Figur einfach apathisch abdriftet, testet „Hyphen“ die eigene Fähigkeit zu träumen, selbst wenn es dazu bei manchen noch ein paar psychoaktive Pilze brauchen dürfte.
Die Heldinnen dieser drei Romane jedenfalls finden einen gangbaren Ausweg aus einer reizüberfluteten, katastrophischen Welt in einem sanften Rausch. Die Zeit der großen Revolution erscheint vorbei. Das gilt für die fiktive Zukunft wie für unsere Zeit: Gehen auch wir in der Gegenwartsbewältigung gerade von der Phase der Verzweiflung in die der Erstarrung über? Das wäre fatal, denn der größte Gegner der Utopie ist – die Apathie.