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Annett Gröscher: „Schwebende Lasten“: 100 Leben in einem. Empfohlen von Marie Schmidt.
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Blumenhändlerin, Mutter, Weltkriegsüberlebende, Kranfahrerin: Annett Gröschner hat mit „Schwebende Lasten“ einen einzigartigen Roman geschrieben – darüber, was eine Frau zu leisten im Stande ist.
Im Jahr 1938 wird Hanna Krause, Blumenhändlerin in einem Glasscherbenviertel von Magdeburg, 25 Jahre alt und zum sechsten Mal schwanger: „Zwei Kinder, eine Fehlgeburt, zwei Abtreibungen und das hier: mal sehen.“ Am selben Tag kommt in ihren Laden am Knochenhauerufer in ihrem Knattergebirge genannten Viertel – schöne, sprechende Ortsnamen – ein auffällig eleganter Herr. Wie sie auf die Ideen für ihre Sträuße kommt, will er wissen. Stillleben alter Meister vielleicht? „Wann soll ich denn ins Museum gehen, ich muss den Laden am Laufen halten und Familie versorgen, da ist keine Zeit für Gemälde.“
Der Mann lässt eine Postkarte da, von einem holländischen Blumenbild, und den Auftrag, den Strauß darauf „nachzugestalten“. Geht nicht, sieht die Blumenbinderin sofort, die Blüten auf dem Bild haben nicht zur gleichen Zeit Saison, man wird sie nicht auf einmal bekommen. Und der Mann holt seine Bestellung auch nie ab. Vielleicht, überlegt sie, weil der Blockwart sie inzwischen zwingt, das Schild ins Schaufenster zu stellen: „Juden sind in diesem Geschäft nicht erwünscht“. Aber der Auftrag geht ihr das ganze, lange Leben nach. Womöglich kann sie ihn doch noch erfüllen.
Dieser Unbekannte und die fixe Idee vom unmöglichen Blumenstrauß im Museum ist eine Kontrastfolie im Roman „Schwebende Lasten“ von Annett Gröschner. Der Grund, warum es einem nicht über die Lippen will, das Naheliegende über dieses Buch zu sagen: dass es von einer einfachen Frau handelt, einem einfachen Leben in einer normalen Stadt in der Mitte von Deutschland. Ohne Mission und politischen Hintersinn erzählt, einfach nur eine Lebensgeschichte vom zwanzigsten Lebensjahr relativ chronologisch bis zu Hanna Krauses Tod. Aber was heißt schon einfach?
Gleich das erste Kapitel, in dem Hanna 1933 mit der Straßenbahn durch Berlin fährt und über ihre Schwestern und ihre tote Mutter nachdenkt, ist so voller wundersamem Vokabular und patenten Gedanken von Frauen, die früh emanzipiert wirkten, weil sie auf sich allein gestellt waren, als sei eine Zeitkapsel aufgegangen in so eine Gabriele-Tergit- oder Irmgard-Keun-Welt für Magdeburger Arbeiterinnen.
Einige Kapitel später wird aus dem Buch ein Bombenkriegsroman in aller drastischen Härte. Dann einer über eine Arbeiterin in der DDR, die Kranfahrerin Hanna Krause. Darunter liegt eine kleine Historie des Stahlwerks in Magdeburg, das mal für den Schiffsbau entstand, im Krieg die Panzerfabrik Krupp Gruson ist und dann das VEB Schwermaschinenbau-Kombinat „Ernst Thälmann“. All das ist offenbar stark recherchiert, nah bleibt Annett Gröschner aber besonders an dem, was für den Alltag ihrer Figur wichtig ist. Sie nimmt sich ein Kapitel Zeit für Routinen: „Ein ganz normaler Morgen Anfang der Sechziger“. Oder eine Seite nur für die Spuren der Zeit im Gesicht ihrer Heldin. Es ist also auch eine Geschichte vom Altwerden. „So kam sie über den Tag. So vergingen die Jahre.“
Es ist eigentlich kein DDR-Roman, zumindest nicht nur, allenfalls ein Magdeburg-Roman Und eine über eine Frau, die ohne Mutter groß wird und selbst früh und oft Kinder bekommt: „Fruchtbare und unfruchtbare Tage, was meinst du damit?“, fragt Hanna ihre erwachsenen Töchter, die es nicht fassen können. Die letzten Kapitel sind ein Wenderoman. „Schwebende Lasten“ soll außerdem nur ein Teil eines größeren Erzählvorhabens sein, das mit den vier Töchtern noch weitergeht. Und über allem liegt Hanna Krauses Sinn für die Blumen, wie sie zusammenpassen, welches scheinbar gewöhnliche Gewächs im Strauß groß rauskommt, und wie nach Katastrophen und in kargen Zeiten doch immer wieder irgendwas wächst, sogar im schmalen Streifen vor dem Fenster der Plattenbauten oder in den Trümmern der Nachkriegsstadt.
Man spürt daran also, könnte man sagen, Hanna Krauses existentielles Bedürfnis nach Kunst und Schönheit. Auch wenn keine Zeit fürs Museum da ist und, erst später, in Arbeitspausen auf dem Kran, ein paar freie Minuten für Bücher. Das macht ihr Leben eben nicht einfacher, aber sehnsuchtsvoll und weit, es macht sie als Romanfigur groß.
„Schwebende Lasten“ ist erst der dritte Roman von Annett Gröschner, die eine unkonventionelle und immer rasend interessante Autorin ist: Als Journalistin, Feuilletonistin, Kritikerin, Kuratorin, Erzählerin und Reporterin ist sie alles in allem das, was man amerikanisch eine Kulturanthropologin nennen könnte.
Sie kommt selbst aus Magdeburg, ist dort 1964 geboren, lebt aber seit 1983 in Berlin, hat die schmutzigen Eckchen des Prenzlauer Bergs erforscht, als es die noch gab, und dessen angestammte Bewohner, als es die noch gab, und sich überhaupt Berlin erschrieben. Sie hat im Jahr 2000 und 2011 Romane herausgebracht, in denen die Kältetechniker auf der Vaterseite ihrer Familie eine gewisse Rolle spielen und ein Fanbuch über den 1. FC Magdeburg. Zeitzeugendokumente des Luftkriegs auf die deutschen Städte hat sie herausgegeben, und im vergangenen Jahr mit Peggy Mädler und Wenke Seemann das erfolgreiche Gesprächsbuch „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“ gemacht.
Gröschner ist eine der prägnantesten Stimmen in der laufenden Diskussion darüber, ob der Geschichte, dem Wissen der Menschen in der DDR die Anerkennung fehle in der BRD von heute. Wobei es an ihr nicht liegen kann, sie hat die letzten Jahrzehnte hindurch in aller ruhiger Selbstverständlichkeit das Notwendige dazu erzählt, gefunden und erforscht.
In ihrem Roman aber gibt es nicht mal einen impliziten Kommentar, keine Metathese. Es ist eigentlich kein DDR-Roman, zumindest nicht nur, allenfalls ein Magdeburg-Roman. Es wird niemandem ostentativ eine Stimme gegeben, es geht nicht darum, Frauen und ihre Körper endlich ins Recht zu setzen, oder was dergleichen Programme zuletzt waren.
Gröschner erzählt resolut eine Biografie, die unglaublich wirkt, als hätten sich fünf, sechs, sieben Leben darin abgespielt. So war das 20. Jahrhundert eben. Es kommt einem also zweierlei zugleich in den Sinn, während man „Schwebende Lasten“ liest: dass Hanna Krause eine vollkommen einzigartige literarische Figur ist. Dass man aber Frauen wie sie womöglich selbst gekannt hat.
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