Vollständige Rezension anzeigen
Schüttet H-Milch auf die Straßen
Die 34-jährige Amerikanerin Sadie mit dem Allerweltsnamen Smith, von der man kaum mehr erfährt, als dass sie ein Allerweltsgesicht, aber dafür „teuer gemachte“ Brüste hat, bekommt von ungenannten Mächten den Auftrag, eine Landkommune zu infiltrieren. Zuvor hat sie für das FBI gearbeitet, wollte als agent provocateur jemanden zu einem Bombenanschlag verleiten. Der Provozierte wurde freigesprochen, sie verlor deswegen den Job und agiert jetzt freiberuflich für jeden, der zahlt und eine halbwegs vernünftige Spesenpauschale drauflegt.
„Meine Aufgabe ist es, Beweise dafür zu suchen, dass die Moulinarden eine Bedrohung darstellten. Ob es eine ernsthafte Bedrohung war, spielte keine Rolle.“ Die Kommune „Le Moulin“ wird im südwestlichen Frankreich von 45 Zivilisationsflüchtigen betrieben, die der staatlichen Überwachung wie der digitalen Selbstüberwachung entgehen wollen. Sie reparieren ausgesteuerte, alte Maschinen, um Walnussöl für den Wochenmarkt zu pressen, sie bauen Quitten an und wollen in „Zonen der Unzivilisiertheit“ dem Kapitalismus trotzen. Die Liegenschaft, so ist das in Frankreich, verdanken sie einer bourgeoisen Pariser Familie.
Rachel Kushner ist nur zu bewundern, weil sie trotz der thrillerigen Fabel so gar keine Lust zeigt, einen handelsüblichen Roman mit Kabale und Liebe und Intrige zu liefern. Ihr Buch ist für den, der es so lesen will, eine antikapitalistische Kampfschrift, es führt aber gleichzeitig vor, wie kläglich sich der Widerstand dagegen gestaltet. Dieser Widerstand konzentriert sich in „Le Moulin“, aber man soll an das aquitanische Dorf Tarnac denken und an das Manifest „Der kommende Aufstand“, mit dem ein „Unsichtbares Komitee“ 2007 Aufsehen erregte. Von einer Verschwörung gegen die Wohlstandsgesellschaft ging damals die Rede, Hakenkrallen verlangsamten etliche Male den TGV, weshalb Justiz und Regierung in Frankreich und dann auch in den USA etwas nervös wurden.
Der bereits erwähnte Kapitalismus hat die Welt im Griff, er nennt sich bloß mittlerweile Globalisierung. Die Erkenntnis ist nicht ganz neu, aber kaum jemand fasst sie so prägnant zusammen wie Rachel Kushner. „Das wahre Europa ist ein grenzenloses Liefer- und Transportnetzwerk. Das wahre Europa sind eingeschweißte Paletten mit ultrahoch erhitzter Milch, Nesquikpulver oder Halbleitern; Autobahnen und Kernkraftwerke; fensterlose Verteilungslager, vor denen unsichtbare Männer, Polen, Moldawier, Mazedonier, mit ihren leeren Lkws zurücksetzen und Waren einladen, um sie durch ein gigantisches Netzwerk namens ‚Europa‘ zu befördern, von dem ein texasgroßes Stück ‚Frankreich‘ heißt.“
Anschläge auf den TGV, Straßenblockaden, Störaktionen jeder Art interessierten ihn nicht mehr: zu sehr von dieser Welt
Auch im seit je separatistischen Südwesten Frankreichs macht sich das Agribusiness breit. Ein gigantisches Reservoir soll gebaut werden, das Grundwasser abgezogen, die Landwirtschaft, da, wo sie es noch nicht vollständig ist, so industrialisiert werden, dass die Milch dann auch ultrahocherhitzt von übermüdeten Lkw-Fahrern durch das übrige Europa befördert werden kann. Widerstand ist zwecklos, oder doch nicht? René, „der von Bier und Zigaretten lebte“, ist zum Aktivisten geworden, als er in einem Daimler-Werk bei Stuttgart erlebte, wie sich Arbeiter bis zur Bewusstlosigkeit betrinken, um sich mit der Stanzmaschine die Hand zu verstümmeln und sich mit der Entschädigung einen Mercedes der E-Klasse kaufen zu können und eine lebenslange Rente zu kassieren. (Die Abteilung „Human Relations“ der Mercedes-Benz Group versichert auf Nachfrage, dass man alle Sicherheitsstandards peinlich genau einhalte; „betrügerische Selbstverletzungen, wie von Ihnen mit Bezug auf den fiktionalen Roman genannt, sind uns nicht bekannt“.)
Die Kommune verfügt über einen naturgemäß unsichtbaren Geist, es ist Bruno Lacombe, Autor des Buches „Wer die Welt hinter sich lässt“. Lacombe war nicht immer abgeklärt, aber anders als die aus der Stadt geflohenen Neubauern verfügt er über eine gewisse Legitimation für den Ökoterrorismus. Seine Mutter und sein Bruder sind in Buchenwald gestorben, mit 15 hat er als Waisenkind Guy Debord kennengelernt, den Begründer der anarchistischen Situationistischen Internationalen, wurde dann, wie seine ganze Generation, vom Pariser Mai entflammt und gleich wieder enttäuscht, zog sich zurück aufs Land, gründete eine Familie, widmete sich ganz der Natur. Er studierte den Heugeruch, von dem es je nach Feuchtigkeit, Luftdruck, Lagerung tausend Varianten gebe, beobachtete, wie die Schwalben ihre Nester bauen, wurde eins mit dem Land. Für ihn gab es keinen Riss mehr zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, viel größer war der zwischen Mensch und Natur.
Dann starb bei einem klassischen landwirtschaftlichen Unfall aus Unachtsamkeit seine Tochter, sie wurde unter einem Traktor erdrückt, ohne den es auch bei besten rousseauistischen Absichten nicht geht. Für Lacombe musste sich jetzt alles, alles wenden. „Demontieren würde man die vom Kapital regierte Welt nicht können. Stattdessen müsse man sie hinter sich lassen.“ Lacombe zog in eine Höhle, ließ nicht nur den Kapitalismus hinter sich, sondern gleich die ganze Gegenwart und verschwand in der Steinzeit. Anschläge auf den TGV, Straßenblockaden, Störaktionen jeder Art interessierten ihn nicht mehr, zu irdisch, zu sehr von dieser Welt.
Ihn interessierte nicht das revolutionäre Potenzial von 1789, er suchte es nicht einmal bei den Katharern oder den Cagots, die nach einem Bauernaufstand am Ende des 16. Jahrhunderts vom örtlichen Adel massakriert wurden, sondern fand es noch vor dem Holozän, bei dem in der Menschwerdungsgeschichte so übel beleumdeten Neandertaler, der nicht ausgestorben sei, sondern in genetischen Spurenelementen im evolutionär siegreichen Homo sapiens fortlebe. Nicht der, sondern der Neandertaler ist für Lacombe der Künstler, er war es, der in den Höhlen der frühen Warmzeit nicht einfach seine Beutetiere abmalte, sondern seiner Fantasie in Rot und Schwarz freien Lauf ließ.
Lacombe wird natürlich seit Jahrzehnten überwacht, die Behörden fürchten das revolutionäre Potenzial selbst seiner immer esoterischer werdenden Botschaften, die er aus seiner Höhle sendet. Sadies anonyme Auftraggeber haben sich den eitlen Pascal Balmy als den Mastermind ausgesucht, an den sie herangespielt wird. Bis zur Frisur gleicht er Debord, auch er ein Bourgeois, bestes Pariser Arrondissement, aber glühend im Feuer für die Unterdrückten und Ausgebeuteten und regierender Pascha der Mühle. Mit drei weiteren Männern arbeitet er an Manifesten für den kommenden Aufstand, die wiederum Sadie, eine ziemlich schwache Legendierung für eine Spionin, ins Englische übersetzen soll.
Mit Auskenner-Rhetorik an der Weltrettung arbeiten, während der Kellner für Nachschub an Roséwein sorgt
Für sie oder eher noch für die Autorin, die ihre akademische Ausbildung nicht vergessen hat, gleichen die intellektuellen Aufrührer den Schreibern im mittelalterlichen Kloster, die an einer weiteren Summa Theologiae arbeiten, während draußen vor den Fenstern die minderen Brüder und Schwestern mit niederen Tätigkeiten beschäftigt sind: mit Bauen, Reparieren, Gießen, Zuschneiden, Handarbeit, Kinderaufzucht.
Sadie Smith kommt aus dem Effizienzkapitalismus, sie geht auch bei der Männerwahl ganz mechanisch vor, und macht ansonsten „wozu man mich angeheuert hat“. Das allerdings gelingt ihr nur überhaupt nicht. Sie hackt sich in Lacombes Account und wird süchtig nach diesen weltfremden Botschaften, die er nicht ihr, sondern seiner Gefolgschaft zugedacht hat. Zum ersten Mal entdeckt sie Gefühle in sich, die Agentin sucht den Dialog mit dem unsichtbaren, stummen Lacombe, die Kriegerin muss weinen.
Um den Ökoterrorismus zu feiern, ist Rachel Kushner dann doch zu intelligent und, anders als ihre Erzählerin, viel zu interessiert an dem, was in der Welt auch komisch ist. Deshalb ist es nicht die Dienstleisterin Sadie, der auffällt, dass die Matronen in Marseille alle mit dem gleichen Blümchenkleid auf die Straße gehen oder die abscheulich detailliert den Raststättenunrat registriert, sondern die ironische Rachel Kushner, die sich mit dem Blick einer Amerikanerin auf der Durchreise über die kulturelle Arroganz der Europäer amüsiert. „Italiener wollen einem oft erzählen, die Pasta und die Weine aus ihrem speziellen Ort seien die besten. Sie tun so, als führten verschiedenen Nudelformen zu verschiedenen kulinarischen Erlebnissen. Spaghetti bestehen aus Mehl und Wasser und schmecken immer gleich, egal wo sie herkommen.“ Sadies eigene kulinarische Bedürfnisse sind basal, es kann auch zehn Jahre altes Nutella sein, Bier hilft.
Einmal tritt sogar Michel Houellebecq auf und hat „die sexuelle Energie einer Großmutter mit Knochendichteproblemen“
Mit keineswegs interesseloser Heiterkeit betrachtet Kushner dieses Frankreich, wo man mit Durchblickerrhetorik am Wohl der Menschheit arbeitet, ohne den Kellner aus den Augen zu lassen, der für den Nachschub an Rosé zu sorgen hat. Der leibhaftige Bernard-Henri Lévy hat eine kurze Szene, verbunden mit dem sartorialen Hinweis, dass er sich die Hemden gleich ohne Knöpfe schneidern lässt, „zwei glänzende Stoffbahnen, die am Nabel zusammenfließen“. Als Begleiter eines allseits gehassten, weitgehend fiktiven Staatssekretärs für Ländliche Geschlossenheit tritt einmal sogar Michel Houellebecq auf, vermutlich aus juristischen Gründen als Michel Thomas getarnt, aber unverkennbar, wenn die Erzählerin ihn auf Youtube in einer dieser Talkshows entdeckt, „die es nur in Frankreich gibt, wo die Menschen glauben, Schriftsteller wären interessant“. „Sein zerfranstes Haar sah aus, als hätte es unter einem ultraheißen elektrischen Bügeleisen geklemmt.“ Dieses französische Nationalheiligtum besaß, wie diese moderne Modesty Blaise mit vergrößertem Busen und Kennerblick bemerkt, „die sexuelle Energie einer Großmutter mit Knochendichteproblemen“.
Es ist am Ende dann aber doch eine tieftraurige Geschichte: Auch die Moulinarden stellen keine ernsthafte Bedrohung für den Kapitalismus dar, ihre Maschinenstürmerei beschränkt sich im Wesentlichen darauf, die den Kühen abgezapfte Milch aus dem Tanklaster auf die Straße zu kippen, der kommende Aufstand kommt nicht. Die Agentin verschwindet wie Bruno Lacombe aus der Welt. Sie hat aber trotzdem nicht versagt.
Kleist wollte seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge einst Immanuel Kants Philosophie mit grünen Gläsern auf Augen erklären, bei Rachel Kushner ist es die Heineken-Bierflasche, durch die Sadie „ein Tal reinsten Grüns“ findet. „Keine Ranch, keine Bauprojekte, nichts als flaschengrüne Berge“ und weit und breit kein Mensch.