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Raimund Schulz: „Welten im Aufbruch“: Rätselhafte Römer. Empfohlen von Johan Schloemann.
Hier eine kleine Warnung vor der Unsicherheit von wirtschaftlichem und politischen Erfolg: „Dein Reichtum, dein Handelsgut, deine Ware, deine Schiffsleute, deine Steuerleute, deine Zimmerleute, deine Händler und alle deine Kriegsleute und alles Volk in dir werden mitten ins Meer stürzen am Tag deines Falls. Da werden die Gestade erbeben von dem Geschrei deiner Steuerleute.“
Diese Warnung stammt nicht von einem wildgewordenen amerikanischen Präsidenten im Wirtschaftskrieg gegen Grönland, China oder sonst wen, sondern vom biblischen Propheten Hesekiel, aus dem 6. Jahrhundert vor Christus. Er richtete sie an die reiche phönikische Hafenstadt Tyros im heutigen Libanon (wo derzeit mehrere palästinensische Flüchtlingslager liegen). Der Prophet zählt auf, was damals auf den Märkten der Stadt Tyros an Rohstoffen ankam, von Handelspartnern aus allen Himmelsrichtungen der damals bekannten Welt. Er nennt etwa „Silber, Eisen, Zinn und Blei“, „Rosse und Reitpferde und Maulesel“, „bunte Stoffe, feine Leinwand, Korallen und Rubine“, „Feigen, Honig, Öl und Harz“ – und vieles mehr.
Geniale Exporteure, irre Renditen
Die Drohung war, wie es so der Job von Propheten ist, übertrieben. Hesekiel wollte eine Handelsmetropole für ihre Gottlosigkeit bestraft sehen und damit auch eine Rivalin Jerusalems. Doch Tyros ging nicht unter. Die Phöniker waren geniale Exporteure, sie hatten stabilere Schiffe als andere, sie verwendeten eine Schrift, aus der sich fast alle heutigen alphabetischen Schriften entwickelt haben, sie haben den Spaniern gezeigt, wie man erfolgreich Wein anbaut, und sie gründeten Karthago im heutigen Tunesien, das die Römer später nur in langwierigen und brutalen Kriegen bezwingen konnten.
Aber die sogenannte Totenklage von Tyros beim Propheten Hesekiel zeigt in einem kleinen Ausschnitt, was los war in Eurasien im Altertum: das Risiko und die irren Renditechancen des wirtschaftlichen Aufbruchs, die Abhängigkeit vom Austausch und manchmal auch von gnadenlosen Eroberungen; die Lernprozesse und Verbindungen, die sich durch technische Innovationen, durch Kulturkontakte zu ganz verschiedenen Mächten ergaben, zu vertrauten oder exotisch fremden Lebens-, Siedlungs- und Herrschaftsformen. Viel war in Bewegung, ständig gab es Neuerungen – auch wenn die Kulturen zugleich oft behaupteten, sie setzten nur die Tradition ihrer Ahnen fort und hielten sich an die Gebote ihrer Götter.
Der in Bielefeld lehrende Historiker Raimund Schulz hat es gewagt, darüber eine „Globalgeschichte der Antike“ zu schreiben. Diese Antike umfasst zeitlich ungefähr zwei Jahrtausende, von 2000 v. Chr. bis zur römischen Kaiserzeit, geografisch reicht sie grob gesagt von Spanien nach Ägypten, von den Kelten bis nach China, von den Steppen im Norden bis zur Arabischen Halbinsel und bis nach Indien. Über viele dieser so durchstreiften Städte, Formationen und Reiche gibt es jeweils eigene dicke Bücher. Raimund Schulz aber hat auf 400 Seiten etwas anderes vor: Er möchte eine einordnende Erzählung bieten, auf dem neuesten Stand der Forschung, über die Entstehung von sogenannten Hochkulturen, ihre Unterschiede und Begegnungen – und nebenbei auch über ihr historisches Erbe bis heute.
Fünf „zentrale Formierungskräfte“
Geordnet bekommt Raimund Schulz diesen gigantischen Stoff mit fünf „zentralen Formierungskräften“. Nach denen ist, trotz vieler Querverbindungen, auch sein Buch gegliedert. Diese fünf Kräfte sind: das Nomadentum, vor allem Krieger auf Pferden; der Aufstieg der Städte, die sich von Landwirtschaft ernährten; die Bildung von Imperien – wie Ägypten und Babylon, die beide nie allzu weit über ihren natürlich Fluss-Raum hinausgriffen, und die größeren Reichsbildungen Assyrien, Persien, China und Rom; viertens die Wirtschaft, die zunehmende Macht von Kaufleuten, der Warenhandel, der schon in der Antike von China bis nördlich der Alpen reichte; und als fünfte, aber nicht geringste Kraft die Religion – mit ihren Mythen, Opfern, sonstigen Ritualen, Sinnstiftungen und ethischen Lehren.
Mit seinem Erzählverfahren, mit seiner Sortierung vermeidet es Raimund Schulz, eine dieser Kräfte zu stark zu gewichten oder gar eine monokausale Kulturtheorie zu formulieren. Um aber von all den staunenswerten Eroberungen, Ideen und Erfindungen berichten zu können, muss zunächst geklärt werden, was die seit etwa drei Jahrzehnten beliebte „Globalgeschichte“ in diesem Fall nicht ist: Sie ist natürlich nicht mehr eurozentristisch.
Das führt dazu, dass die Griechen und Römer eher beiläufig eingeordnet und konsequent von Osten her beleuchtet werden, was nicht heißt, das Schulz ihre epochalen Besonderheiten verschweigt. Es lässt die beiden „klassischen“ Völker aber viel spezieller, kurioser aussehen als andere – etwa wenn die Griechen als indoeuropäisches Erbe den Pferdestreitwagen in ihren Helden- und Göttergeschichten einsetzten, obwohl dieses Gefährt in ihren hügeligen Landschaften und Inseln in Wahrheit ziemlich nutzlos war; oder wenn die Römer wegen einer bestimmten historisch-ökologischen Konstellation in Italien eine sonderbare imperiale Mischung von Bäuerlichkeit und Kriegertum darstellten (und auch von Frieden und Ausbeutung).
Hier prägen Gruppen den Gang der Geschichte, nicht einzelne Menschen
Und noch etwas bedeutet Globalgeschichte hier nicht: dass der gesamte Globus gemeint wäre, der noch gar nicht im Blick war – es geht „nur“ um das untereinander in gewisser Verbindung stehende Eurasien, die Maya in Mittelamerika kamen und kommen nicht vor. Und es heißt auch nicht, dass stets alles mit allem zusammenhing und voneinander wusste – Geschichte besteht eben, so ermahnt der Autor alle Vernetzungseuphoriker, „aus Nähe und Ferne, aus Kontakt und Zurückgezogenheit, aus Beharrung und Veränderung“.
Raimund Schulz spielt das über die Jahrhunderte und Jahrtausende imposant durch, mit so viel Überblick, dass man es über weite Strecken auch wirklich mit Vergnügen liest – nur manchmal ist man ein wenig lost in translation, wenn man nicht auf die mitgelieferten Karten oder einen Zeitstrahl blickt. Eher Gruppen und Interessen als Einzelmenschen bestimmen hier den Gang der Geschichte – obwohl auch Buddha und Jesus, Dareios, Augustus und die chinesischen Kaiser vorkommen.
Am stärksten wirkt in diesem Buch die Erzählung über den Menschheits-Gegensatz von Nomadentum und Sesshaftigkeit, die jeweils auseinander hervorgingen und sich herausforderten: Der „Drang zur kriegerischen Mobilität“, so heißt es einmal, „kämpfte mit der Behaglichkeit der Familie“. Das bleibt ein kulturelles Ur-Thema seit dem Keilschrift-Helden Gilgamesch, bis heute: Stadt und Land. Der Freiraum der Natur als Sehnsuchtsort, das Offene, das zur Expansion einlädt – und das organisierte, gebaute Zusammenleben als Flucht vor der gefährlichen Wildheit, als Überwindung des Chaos. Bis es irgendwem dort wieder zu eng wird.