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Eine Deutschlandreise im Jahr 1958 - Empfohlen von Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung
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Wer Deutschland verstehen will, muss mit diesem Buch beginnen: Carlo Levis literarisch meisterhafte Reise durch die Wirtshäuser und Salons der jüngeren Moderne zwischen München und Berlin.
Im Winter 1958 reiste der italienische Schriftsteller Carlo Levi, durch seinen Roman „Christus kam nur bis Eboli“ längst weltberühmt, nach Deutschland, um ein paar Vorträge zu halten und um einen Bildband über Italien zum Druck zu bringen. Die Reise führte von München, das mit dem Flugzeug erreicht wurde, über Augsburg, Ulm, Stuttgart (mit Abstechern nach Schwäbisch Hall und Tübingen) und Frankfurt ins geteilte, aber noch nicht durch die Mauer getrennte Berlin.
Die zu erledigenden Geschäfte waren geringfügig, sodass Levi, der aufs Bequemste untergebracht und umsorgt wurde (in München logierte er in den „Vier Jahreszeiten“, regelmäßig führten ihn gebildete und orientierte Begleiter in die besten Restaurants), seine Aufmerksamkeit ganz auf Land und Leute richten konnte. Levi, ausgebildeter Kunsthistoriker und Maler, promovierter Mediziner, hochbelesen, kennt die deutsche Kultur in ihrer Tiefe. Er kann Hölderlin und Goethe zitieren.
Er hat sich sogleich an einen Bericht gemacht, der in Italien schon 1959 erschien, dessen deutsche Übersetzung aber bis heute warten musste – und nun, beim verstörten Lesen im Jahre 2024, begreift man, warum: Zu ambivalent, zu hart, zu gnadenlos sind Levis Blicke auf das aus der Katastrophe neu erstandene, aber uralte Land mit seinen Trümmern, seinen kahlen Neubauten, seinem neuen Reichtum, seinen idyllischen Dörfern in lieblichen Landschaften und seinen redseligen (das Internet war für die Einsamen noch nicht erfunden, sie mussten zum Austausch noch in die Bierhallen), oft hässlichen, gelegentlich auch engelhaften Menschen.
Diese Prosa ist überwältigend in ihrer Schärfe, empfänglich für das Schöne wie Groteske
Levi, 1902 in Turin in eine wohlhabende jüdische Familie geboren, war Antifaschist der ersten Stunde, unter Mussolini bald inhaftiert und in den Süden verbannt, wo er den Stoff seines berühmtesten Romans fand. Er war also keiner der mit den Nazis sympathisierenden Italiener der „Achse“ Rom–Berlin gewesen. Sein Begriff von der deutschen Katastrophe war umfassend und kompromisslos, gerade weil er viel von der edelsten deutschen Kultur wusste, von den altdeutschen Malern, die er verehrte, von der deutschen Musik, dem besonderen „deutschen“ Stil in Plastik und Architektur. Sein ästhetisches Wahrnehmungsgerüst erinnert stark an die Dichotomien von Heinrich Wölfflins Buch „Italien und das deutsche Formgefühl“, diesem Klassiker eines binationalen Vergleichs.
Auch sonst hat Levi es mit Kulturtypologien und Völkerpsychologie, was der schwächere, zeitgebundene Teil seiner Wahrnehmung ist. Goethe und Hitler sind ihm Stämme von gleicher Wurzel, ein wenig wie in Thomas Manns Rede über „Deutschland und die Deutschen“ von 1945. Tiefes, angstgetriebenes Misstrauen gegen Deutschland grundiert den Text.
Das muss man relativierend vorausschicken, um dann den Fuß aufs Pedal zu setzen: Die beschreibende Prosa Levis in diesem Reisebericht aus unserer jüngeren Moderne ist großartig, überwältigend in ihrer Schärfe und Anschaulichkeit, ihrer misstrauischen Überzeichnungskraft, ihrer surrealen Empfänglichkeit fürs Groteske, aber auch fürs grell Schöne und düster Bedrohliche des Landes. Herrliche Naturbeschreibungen immer wieder! Kurzer Abgleich, um einen Begriff von den literarischen Mitteln zu geben: Levis Schilderungen können sich mit den Bestandsaufnahmen des frühen Arno Schmidt messen, ihr konsequent böser Blick erinnert an Baudelaires hasserfüllte Darstellungen Belgiens. Karikaturistisches, expressionistisches Sehen also, wie es einem Maler, das war Levi sein Leben lang, besonders zur Hand ist.
„Sie fressen, verleiben ein, verschlingen, schlucken, kauen, zermalmen, saugen auf.“
Mit diesem Instrumentarium, seinem Wissen, seinem malerischen Sehen geht Levi unermüdlich auf Tour, durch deutsche Bierschwemmen, Nachtlokale und Museen, um einem kuriosen Menschenstamm zuzuschauen, zuweilen ihn auch in Gespräche zu verwickeln, Spinner, Prostituierte, allerlei Strandgut der Nächte eingeschlossen. In einem Münchner Lokal beobachtet er Frauen mittleren Alters, die Würste essen und Bier trinken.
„Ohne jegliche Zurückhaltung widmen sie sich ganz und gar den Köstlichkeiten, diesem Hochamt von Mund und Eingeweiden. Sie essen nicht: Sie fressen, verleiben ein, verschlingen, schlucken, kauen, zermalmen, saugen auf, wie riesige Seidenraupen, völlig versunken in die reine Gefräßigkeit. Ihre weiche rosige Haut verfärbt sich in alle Schattierungen von Rot und Violett, ihre Nasen glänzen, es glänzen ihre Augen, ihre blonden Locken kräuseln sich unter ihren Hütchen, ihre Wangen hängen symmetrisch herab, ihre aufgedunsenen Körper scheinen aus ihrer Kleidung platzen zu wollen, ihre weichen beringten Finger packen jene Würste mit besitzergreifenden Krallen; und währenddessen unterhalten sie sich, ohne zwischen den Bissen innezuhalten, und lachen und schwelgen, frei und glücklich.“
Levi hat, da ist er sich sicher, die Gesichter dieser Frauen soeben in der Alten Pinakothek gesehen, in den „herrlichen Gemälden der ersten deutschen Maler“ des späten Mittelalters. Deren Verbindung des Naturalistischen mit dem Innigen gibt ihm den Schlüssel für die deutschen Menschen vor seinen Augen. Völlig frei von „Idealschönheit“ sei das Menschenbild der altdeutschen Maler (Wölfflin!). Ein solches ästhetisches Erbe ermuntere die Menschen noch heute, sich frei von jeglicher Beschränkung durch Furcht vor Hässlichkeit und Fettleibigkeit, vor Missbildungen und Alter zu fühlen. Kein Raffael im Öldruck über dem Ehebett hat zügelnde Wirkung wie in Italien!
Unter den Verrückten, die in den Bierschwemmen das Gespräch suchen, sticht eine lebende Karikatur deutscher Bildung hervor, ein junger Blonder mit Brille und Barett, der sich partout und hochkomischerweise nicht davon abbringen lassen will, dass „Goethe und Schiller“ eine einzige Person seien, mit Doppelnamen. Levi kann ein Goethesches Epigramm hersagen, aber der Blonde kräht nur insistent „Goethe und Schiller“ dazwischen – eine Szene wie von Heiner Müller.
Man ist mit dem Autor ganz erleichtert, als er in Tempelhof wieder abhebt nach Italien
Grauenhaft findet Levi die Wiederaufbauarchitektur des zerbombten Landes: Sie müsste „vor Abscheu vor ihrem anonymen Aussehen eigentlich einstürzen“. „Nicht nur Stuttgart“, so resümiert er, „sondern alle, oder so gut wie alle, alten kleinen Städte Deutschlands sind in Bezug auf das, was sie einmal waren, tot: zertrümmert von den Bomben, neu und unkenntlich wiederaufgebaut oder geschickt gefälscht.“ Vermutlich musste man aus Italien kommen, um diesen Krater in der historischen Bausubstanz und damit im kollektiven Gedächtnis in seiner ganzen Tragweite zu ermessen. Durch diesen kahl hergerichteten Krater stolpern überall noch die Kriegsversehrten, Humpelnde, Einbeinige, Verletzte, Traumatisierte.
Das zeigt sich auch im Kontrast zu unzerstörten, intakten Orten wie Schwäbisch-Hall, wo Levi spitzgieblige, verschnörkelt verzierte alte Häuser bewundert. In der Kirche schrecken alte Familienbilder mit bärtigen Gesichtern und „unterwürfigen harten Augen, Gesichtszügen voll bürgerlicher und religiöser Würde“. Unter den Füßen der Erwachsenen ihre toten oder totgeborenen Kinder: „Als winzig kleine Leichname liegen sie in Windeln gewickelt am Boden, wie kleine weißliche Würstchen.“
Den Gipfel dieses Noir bildet Berlin, wo Levi zwei Wochen lang hektisch zwischen Ost und West pendelt, um das Herz des Kalten Kriegs zu verstehen. Unter all dem aber auch: Gebildete, höfliche Gesprächspartner, viele mit untadeliger Vergangenheit, andere undurchsichtig-verdächtig.
Alles ist so widersprüchlich und bedrohlich, dass man mit dem Autor, erschöpft von seinem Prosasturm, aufatmet, als sein Flugzeug aus Tempelhof endlich wieder Richtung Süden startet.
Deutsche, die ihrem Vaterland mit gebührender Hassliebe verbunden sind, müssen diesen Text lieben. Der knappe, dabei inhaltlich wie stilistisch so reiche Bericht ist eine spektakuläre Wiederentdeckung. Dank an den großartigen Übersetzer Martin Hallmannsecker!
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