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Empfohlen von Christiane Lutz, Süddeutsche Zeitung
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In „E. E.“ glauben alle an die übersinnlichen Kräfte einer jungen Frau. Besser gesagt: Sie wollen daran glauben. Olga Tokarczuks psychologisch-düsterer Roman erscheint erstmals auf Deutsch.
Einen Text über Olga Tokarczuks Frühwerk „E. E.“ muss eigentlich beginnen, wie auch der Roman beginnt. Und zwar so: „Aus dem Nebel der Unbestimmtheit, wie er für gewöhnlich die Existenz mittlerer Töchter in kinderreichen Familien umgibt, trat Erna Eltzner einige Tage nach ihrem fünfzehnten Geburtstag – als sie am Mittagstisch ohnmächtig wurde.“
Abgesehen davon, dass in diesen Eröffnungssatz schon so vieles eingewoben ist, was die Nobelpreisträgerin Olga Tokarzuk zu einer so fantastischen Erzählerin macht – der Satzbau, der getragene, fast feierliche Ton, der originelle Ausgang – fasst er zusammen, was sie in diesem Roman erzählt: Die Geschichte einer gewöhnlichen jungen Frau, die unerwartet den Bereich des Gewöhnlichen verlässt, vor den Augen aller.
Der Grund für Erna Eltzners Ohnmacht nämlich ist die Sichtung des verstorbenen Großvaters. Das Mädchen sieht Geister und hört Stimmen. „Geister gab es also wirklich“, denkt sie später, „so wirklich, wie Amerika existierte, die große Liebe oder ein Verbrechen, doch verbleiben derlei Erscheinungen irgendwo in der Ferne, außerhalb des alltäglichen Lebens. Sie hatten ihren Platz in einem anderen Gefilde, man erwartete sie nicht zum Mittagsmahl.“
Hysterisch oder heilig: Wesen auf Augenhöhe waren Frauen den Männern nicht
Ernas Mutter hegt keinen Zweifel: Die Tochter ist ein Medium. Rasch wird das weitere Personal des Romans herbeigerufen, ein Arzt, ein Spiritist, ein Medizinstudent, dessen Mutter und jene, die offen sind für Übersinnliches. Eine junge Frau, die mit Toten sprechen kann, ist auch 1908 in Breslau eine Sensation. Diese Sensation betrachtet Tokarczuk im Roman dann aus den Augen derer, die fortan regelmäßig zu den „Séancen“ im Hause Eltzner kommen, die Ernas Mutter veranstaltet. Das bedeutet vor allem: durch die Augen von Männern. „E. E.“ ist kein Roman über Erna, er ist eine Sammlung der verschiedenen Blicke auf Erna.
Das Frauenwahlrecht etwa war zur Handlungszeit des Romans weder in Polen noch in Deutschland eingeführt, und die von Sigmund Freud entwickelte Psychoanalyse war 1908 noch ganz neu, die überwiegend bei Frauen diagnostizierte Hysterie der Dernier Cri, der letzte Schrei. Irgendetwas zu pathologisieren gab es an Frauen immer. Wesen auf Augenhöhe waren Frauen nicht. So tun die Beobachter von Erna auch vor allem eines: Sie pathologisieren. Bezeichnen sie als „wahnsinnig“, als „verrückt“. Erna ist als Objekt interessant, als „Fall E. E.“.
Die Kapitel sind abwechselnd mit den Namen derer überschrieben, aus deren Perspektive sie erzählt sind. Erna selbst kommt in dieser Rotation vor, aber selten. Sinnbildlich und von der Autorin auch formal eingepfercht ist sie zwischen allen, die auf sie schauen.
Für den Medizinstudenten Arthur Schatzmann ist Erna ein aufregendes Forschungsobjekt, seine Mutter wiederum hofft, über Erna in Kontakt mit ihrem toten Ehemann treten zu können. Doktor Löwe hält sowohl die Übersinnlichkeit für Quatsch als auch die Diagnose „Hysterie“: Er „wusste sehr wohl, dass es auch in der Medizin – wie in der Konfektions- oder der Möbelbranche – Moden gibt, die kommen und gehen“. Er nimmt am okkulten Gläserrücken teil, weil er sich als Arzt in der Pflicht sieht, über das Geschehen zu wachen.
Ernas Mutter „Frau Eltzner“ fühlt sich durch die Besonderheit ihrer Tochter auch selbst besonders und genießt die Aufmerksamkeit, die ihr Haushalt plötzlich erfährt. Sie ist es, die die Sitzungen immer weiter anberaumt, ist aber auch selbst in ihrem kinderreichen Haushalt zum Leben als Mutter verdammt. Dann ist da noch Walter Frommer, Rathausbeamter mit der Zuständigkeit „Sterberegister“. Er ist Hobby-Spiritist und halb überzeugt, halb getrieben vom Wunsch, Ernas übersinnliche Kräfte mögen echt sein. „Frommer gehörte also zu jenen Begnadeten, die nicht wussten, aber glaubten.“
Wie immer, wenn Glaube statt Wissen im Spiel ist, bringt der Glaube den Beteiligten auch in „E. E.“ einen Vorteil. In dem Fall sind es Gefühle von Macht, Überlegenheit, Aufmerksamkeit, die Befriedigung der Sensationslust. Genug jedenfalls, um die okkulten Séancen am Laufen zu halten. Erna, die anfangs, so wirkt es, tatsächlich die Toten herbeiruft, zumindest irgendwelche, erzählt im Laufe der Wochen zunehmend Rätselhaftes, Dadaistisches.
Das Bemerkenswerte: Niemand zieht Ernas Fähigkeiten ernsthaft in Zweifel. Der Verlust – von Macht, Überlegenheit, von Aufmerksamkeit und so weiter – wäre zu groß. Erna aber zu fragen, was sie denkt, was sie will und wie sie sich dabei fühlt, unter den Augen Neugieriger in Trance versetzt zu werden, scheint auch komplett ausgeschlossen zu sein. Persönlichkeit? Wird ihr nicht zugestanden.
So bleibt Erna in dem nach ihr benannten Roman eine Randfigur, über die die Leserin wenig erfährt. Eine junge Frau, für die alles verbunden ist, schreibt Tokarczuk vage, „vielleicht auf chaotische Weise. Aber es war verbunden. Ausnahmslos“. Eine junge Frau, die selbst nicht recht weiß, was ihr bei den Sitzungen geschieht, sich überfordert fühlt, müde von der Aufmerksamkeit.
Obwohl „E. E.“ bereits 1995 in Polen erschien, also Lichtjahre von den feministischen Debatten unserer Tage entfernt, zeigt sich schon die Cleverness, mit der Tokarczuk (damals Anfang 30) feministische Geschichte in Form und Inhalt erzählt. Ganz ohne Empowerment und ohne eine Frau in die Machtposition zu hieven, ausrasten zu lassen oder als Opfer zu inszenieren. Deshalb war auch ihr jüngster Roman „Empusion“ von 2023 so gut. Denn darin lotet sie Geschlechtergrenzen aus und schickt einen doppeltgeschlechtlichen Protagonisten in ein Sanatorium, wo er sich in einer misogynen, geschwätzigen Herrenrunde langsam und klammheimlich zur Frau entwickelt. Ihre Version eines feministischen Zauberbergs.
Man hat bei der Lektüre das Gefühl, beobachtet zu werden von jemandem, der klüger ist
Olga Tokarczuk ist nicht nur studierte Psychologin (was man merkt), sie bewegt sich in ihrer Literatur immer auch an den Rändern der Realität, an der Grenze des rational Fassbaren. Sie greift, auf dem Boden der Tatsachen stehend, mühelos hinüber ins Mystische und Mythische, ins Spirituelle und stellt ebenso gesellschaftliche Behauptungen infrage. Tokarczuk ist Expertin für den anfangs zitierten „Nebel der Unbestimmtheit“, Fachfrau des Flüsternden, immer hat man beim Lesen ihrer Romane das Gefühl, beobachtet zu werden von jemandem, der klüger ist. Das macht ihr Werk so einzigartig und auch „E. E.“ besonders, auch wenn der von Lothar Quinkenstein elegant aus dem Polnischen übersetzte Roman verhältnismäßig holzschnittartig ist – gemessen an der Qualität der späteren Romane der Nobelpreisträgerin.
Ernas Karriere als Medium endet schließlich durch einen Streich ihrer Schwestern und mit dem Einsetzen ihrer Menstruation. In dem Moment also, in dem sie biologisch vom Kind zur Frau, zum sexuellen Wesen wird, was sie grundsätzlich verdächtig macht. Für Erna kann das nur ein Glück bedeuten, die neugierigen Männer nun los zu sein, erwachsen zu werden und vielleicht wieder zu verschwinden im „Nebel der Unbestimmtheit“. So genau erfährt die Leserin das nicht, aber sie ahnt es. Das letzte Wort hat Erna nicht.
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