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Stories - Empfohlen von Marie Schmidt, Süddeutsche Zeitung
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Eine stade Zeit bekommen wir dieses Jahr eher nicht: In Deutschland ist Wahlkampf, in den USA nimmt eine disruptive Truppe Anlauf auf Regierungsämter, Kriege eskalieren. Auf dem Wunschzettel der Dinge, die man mit Geld nicht kaufen kann, stehen deshalb: innere Ruhe, Konzentration, ein Gefühl dafür, was die Welt trotz allem zusammenhält. Wenn man die superkurzen Geschichten der Amerikanerin Lydia Davis liest, erfüllen sich diese Wünsche auf wundersame Weise. Zumindest für den Augenblick.
Manche sind ein paar Seiten, andere nur einen Satz lang. Es ist also immer Zeit dafür, man kann sie zwischendrin snacken, oder man liest den ganzen neuen Band „Unsere Fremden“ auf einmal durch, weil Lydia Davis’ Kunst der Very Short Story so zum Staunen ist. Dabei sind es keine Sinngeschichten oder Parabeln mit versteckter Moral. Sie wirken eher wie Zen-Übungen über das Beiläufige, das unsere Aufmerksamkeit sonst nur am Rande streift und hier den vollen Fokus bekommt. Lydia Davis stellt scharf auf Details. Als würde sie jedes feine Härchen im wärmenden Winterfell der Wirklichkeit einzeln kämmen und legen.
Eine Geschichte ist sogar eine Parodie auf gewöhnliche Motivationssprüche – im melancholischen Stil von Lydia Davis: „April, die Haushälterin, hat eine Nachricht für mich hinterlassen, handgeschrieben, mit roter Tinte auf einem Stück Papier. Es liegt neben der Kaffeemaschine. Sie hat geschrieben: ‚Weisheit beginnt mit Verwunderung.‘ Das Zitat stammt von Sokrates. Aber der Smiley, der stammt von April.“ Sich erzählerisch so streng zu reduzieren, ist ein Talent, das jeden Literaturnobelpreis wert wäre, wenn die Geste auch bescheiden ist.
Fast zaghaft klingt durch alle Storys von Davis die Sehnsucht nach Beziehungen zu anderen Menschen, die immer unsicher bleiben. Nach einer persönlichen Nachricht der Haushälterin, nach der Hilfsbereitschaft von Nachbarn, die in der Titelgeschichte „Unsere Fremden“ gar nicht selbstverständlich wirkt. Manche der kürzesten Geschichten bilden Reihen, wie die „Ehemomente der Verärgerung“ oder die nummerierten Folgen von „Berühmtheitsgrund“: „Als ich in Detroit in einer Schlange stand, begegnete ich einer Frau, die sich als die Tochter von Samuel Becketts Verleger Barney Rosset entpuppte.“ Schwache Verbindungen zu schwacher Prominenz sind ja manchmal merkwürdig tröstlich. In einer anderen Serie geht es um Nichtgläubige, die für Juden, die die Schabbatregeln einhalten wollen, etwa den Leistungsschutzschalter der Klimaanlage umlegen, eine winzige Hilfe.
Wahrscheinlich kommt Lydia Davis’ Gespür für die Durchlässigkeit von Sprache von ihrer Arbeit als Übersetzerin. Marcel Proust hat sie übersetzt, der eher für lange Sätze und Romane steht, Maurice Blanchot, Michel Butor, aber auch aus dem Deutschen ins Englische, etwa den Schweizer Peter Bichsel. Die deutschen Übersetzungen ihrer Erzählungsbände nun erscheinen im österreichischen Verlag Droschl.
Dass sie bei aller Konzentration auf das Kleine keine unpolitische Autorin ist, hat sich gerade gezeigt, als sie in den USA den Verlag gewechselt hat. Sie ist von dem renommierten Haus Farrar, Straus & Giroux weggegangen auf der Suche nach Verlegern, die ihr Buch nicht über Amazon vertreiben würden. Sie begründete das mit dem „widerwärtige Geschäftsgebaren“ von Jeff Bezos’ Versandhandel, „dem schlechten Umgang mit Beschäftigten, der Wettbewerbsverzerrung, der Vernichtung kleiner Unternehmen und der Verletzung jedes Verständnisses von Gemeinschaft“. Das Buch „Our Strangers“ hat dann die Plattform Bookshop.org herausgegeben, die bei ihrem Vertrieb lokale Buchhandlungen unterstützt. So etwas gibt es übrigens auch für den deutschsprachigen Markt, und natürlich gibt es auch weiterhin noch Buchhandlungen, Plattenläden und Geschäfte in der Nachbarschaft, in die man seine Wunschzettel tragen kann. Vieles können die auch erfüllen.
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