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Roman - Empfohlen von Alex Rühle, Süddeutsche Zeitung
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Der Autor Thomas Korsgaard liebte als Kind eine Sendung, die jedes Mal aus einem anderen Dorf in Dänemark gesendet wurde. Die Zuschauer konnten anrufen und raten, wo das Fernsehteam wohl diesmal haltgemacht hatte. Korsgaard hoffte stets, dass die Sendewagen auch mal zu ihm nach Nørre Ørrum kommen würden, einem Weiler in Jütland, aber das passierte natürlich nie. Und irgendwann, so erzählte Korsgaard Jahre später in einem Interview, irgendwann habe er sich gefragt, ob überhaupt jemand da draußen in der weiten fernen Welt wisse, dass es sie gibt.
Heute wissen es alle. Thomas Korsgaards autobiografische Trilogie ist die große Sensation in Dänemark, als der erste Band erschien, war der Autor gerade mal 21 Jahre alt. Insgesamt verkauften sich von den drei Büchern über die Kindheit und Jugend auf einem Bauernhof 350 000 Exemplare – Dänemark hat gerade mal fünf Millionen Einwohner.
Eine Rinderzucht. Acht Hunde. Zwei Geschwister. Eine Mutter, die sich nicht kümmert. Sie schafft es seit einer Totgeburt ja kaum noch, sich selbst anzuziehen, weil sie sich rund um die Uhr mit Glücksspielen am Computer betäubt. Viel verlieren kann sie dabei nicht, weil sie schlichtweg nichts besitzt. Wenn sie einen ihrer Nervenzusammenbrüche hat, knurrt der Vater nur, sie sei mal wieder hysterisch.
Dieser Vater ist ein Bauer, der sich aber nicht um seine Tiere schert, irgendwann an seinen Bruder verkaufen muss und somit im Grunde zum Leibeigenen wird. Außerdem ist er ein unberechenbarer Sadist, der die Kinder nachts aussperrt und danach so tut, als ob nichts sei. In den Einbauschränken hört man die Ratten herumrennen, im Müll kriechen die Maden, die Kinder sind schon deshalb Außenseiter, weil in jedem ihrer Kleidungsstücke der Gestank der Verwahrlosung hängt.
Das Wunder ist nun, dass all das erzählt wird, ohne dass das Buch jemals zu einem Elendsporno wird. Das liegt daran, dass Korsgaard konsequent aus der Perspektive des jungen Tue erzählt, eines Jungen mit kühlem Verstand und großem Herz, was er unbedingt verstecken muss; wer Gefühle zeigt, wird vom Vater „Schwule Sau“ geschimpft.
Tue nimmt die Dinge, wie sie sind, klaut Schecks und Pfandflaschen und spürt doch immer heimlich diese Sehnsucht, irgendwo hinterm flachen Horizont muss es mehr geben, Schöneres als diesen Haufen toter Tiere, die in der Mitte des Hofs verwesen. Zur Konfirmation wünscht er sich nur eine neue Familie, aber dann kommen natürlich doch wieder die alten Gestalten zusammen, in der leergeräumten Scheune, singen selbstgedichtete Lieder zu alten Schlagermelodien und haben alle Hunger, weil die einzige Freundin der Mutter versucht, mit dem Buffet abzuhauen.
Das ländliche Armutsmilieu, die Homosexualität des Autors und seiner Hauptfigur, der kometenhafte Aufstieg von den Rändern des Landes mitten ins kulturelle Zentrum – das Ganze erinnert stark an Édouard Louis und dessen autobiografischen Roman aus den nordfranzösischen Waste Lands, kommt aber beiläufiger daher und mit einem feinen Sinn für entropische Komik. Von so was wie gescheiterter Sozialpolitik, Homophobie oder der Schere zwischen Arm und Reich hat hier draußen noch nie jemand was gehört, wenn es überhaupt eine Schere gibt, dann wird damit ein Kalb abgeschlachtet. Dank an den Berliner Kanon-Verlag, dass er diese Trilogie von den Rändern der EU, dieses ehemaligen Wohlstands-, Freiheits- und Gleichheitsprojekts, jetzt nach Deutschland rüberholt, die anderen beiden Bände sollen folgen, hoffentlich bald, denn man fragt sich schon, wie Tue und sein Autor Ego es aus dieser Lebenssackgasse herausgeschafft haben.
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