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Ein Wunder, dass sie überlebt hat
Die Siebziger- und Achtzigerjahre in München, das ist die große Zeit der Boulevardmedien, an jeder Ecke werben die Zeitungsständer mit ihren brüllenden Schlagzeilen. Der Bedarf nach Sensationen ist gigantisch: Koksende Gastronomen, verführerische Diven, flegelhafte Fußballstars, Kini-Parodien wie Rudolph Moshammer – sie alle landen auf den gedruckten Titelseiten. Und wenn es allzu ruhig ist in der Stadt, erfindet man halt einen Skandal. So sind die Baby-Schimmerlos-Jahre in München: eine Melange aus realem Wahnsinn und Fiktion, aus Selbstdarstellung und unfreiwilliger Entblößung. Schwabylon pur.
Anfang der Neunziger macht eine Frau Schlagzeilen, die bis dahin nur ihre treuen Kunden und Kolleginnen kannten. Die Österreicherin Herta Lueger steht in München vor Gericht, weil sie einen Promi-Callgirl-Ring betrieben habe, wie die Zeitungen schreiben. Herausgekommen ist das alles nach einem schauderhaften Mord an einer ihrer Prostituierten. Weil Lueger sich als Domina einen Ruf erarbeitet hat, kennt der Boulevard keine Gnade: „Insgesamt war die Presse fast eineinhalb Jahre hinter mir her“, berichtet Herta Lueger.
Wie ein geprügelter Hund sei sie damals durch München geschlichen, auf Schritt und Tritt verfolgt von Journalisten – gelegentlich gelingt es Herta Lueger, die lästigen Begleiter abzuschütteln, indem sie behauptet, sie sei nur die Putzfrau dieser legendären Callgirl-Chefin. Ganz schön clever, aber auch wahr: Schließlich muss sie oft genug den Müll wegputzen, den ihr die Männer auf die eine oder andere Art hinterlassen hatten. „Bardame gesucht – Zimmer vorhanden“ heißt der Titel der Lebenserinnerungen, die die Drehbuchautorin Patricia Lueger gemeinsam mit ihrer Mutter Herta Lueger aufgeschrieben hat. Es ist ein erschütterndes Buch. Denn Herta Lueger hat nichts zu beschönigen: Sie hat das alles irgendwie überlebt, eine Kindheit voller Grausamkeiten im Burgenland, eine katastrophale Ehe, später eine Arbeit im Milieu, die man nicht anders als lebensgefährlich bezeichnen kann.
Seit Beginn der Aids-Epidemie hat sich das Geschäft verändert. Überall geht die Angst um
Die Erzählung setzt ein mit dem Wendepunkt in ihrer Biografie. Der Mord an der jungen Frau, die im Buch Aline heißt, geht Herta Lueger bis heute nach. Aline vertraut sich der erfahrenen Geschäftsfrau an, die Anfang der Neunzigerjahre noch immer als Domina arbeitet, obwohl sie eigentlich längst den Absprung geschafft hat. Gemeinsam mit ihrem Sohn hat sie in München einen Friseursalon eröffnet, während die anderen Geschäfte diskret weiterlaufen. Bei Lueger arbeiten Frauen unterschiedlichen Alters, die nicht mehr von männlichen Bordellbesitzern und Zuhältern abhängig sein wollen, sondern lieber Hausbesuche auf eigenes Risiko machen – seit Beginn der Aids-Epidemie hat sich das Geschäft verändert. Überall geht die Angst um.
Aline ist eine eher untypische Prostituierte, sie hat ein Einserabitur und lebt als Studentin in einer gepflegten Münchner Altbauwohnung. Zum Vorstellungstermin bei der Domina erscheint sogar ihre elegante Mutter, eine Schulleiterin – eine von vielen Szenen in diesem Buch, die sich kein Drehbuchautor besser ausdenken könnte. Aline ist drogenabhängig, und um ihr Leben zu finanzieren, arbeitet sie als Callgirl. „Was sagen Sie eigentlich zum Job Ihrer Tochter“, fragt Hertas Lebensgefährte, Franz, ein Münchner Fotograf. „Glücklich bin ich nicht, aber ich bin über jeden Tag froh, an dem es meiner Tochter gut geht.“
Wenig später kehrt Herta aus dem Urlaub zurück, sie hat schon ein mulmiges Gefühl. Und tatsächlich erfährt sie gleich: Aline ist tot. Der Mörder, ein betrunkener Freier, hat die Leiche der jungen Frau ganz in der Nähe seines Hauses ins Gebüsch geworfen. Herta macht sich schwere Vorwürfe, zugleich gerät sie in den Sog der Ermittlungen und wird schließlich zu einer Bewährungsstrafe wegen Zuhälterei verurteilt.
Die Erinnerung an diesen Mordfall nimmt die Erzählerin zum Anlass, noch einmal tief in ihre Vergangenheit einzutauchen. Herta ist ein Nachkriegskind, geboren 1947 in einem Dorf an der ungarischen Grenze im Burgenland, sie wächst mit einer großen Familie im Haus des verwitweten Großvaters auf. Die Schauspielerin Conny Froboess ist ihr Vorbild, Herta träumt von einem anderen Leben, an einem anderen Ort. Mit 13 verpasst ihr der Friseur eine Marilyn-Monroe-Frisur – Herta ist jetzt eine auffällige Erscheinung, und sie wird es bleiben. Später verliebt sie sich in einen Mann, der schon mit 19 einen eigenen Mercedes fährt. Glänzende Aussichten für das viel zu junge Ehepaar. Aber das Glück ist nur von kurzer Dauer, von nun an geht’s bergab.
Wie viel kann man eigentlich aushalten, ohne Schaden zu nehmen? Herta und Patricia Lueger schildern diese dunkle Zeit in kurzen, prägnanten Sätzen, ähnlich unsentimental wie Kriegsberichterstatter, die live vom Schlachtfeld berichten: der frühe Tod des Vaters, die Schläge des alkoholkranken Ehemanns, der Tod des erstgeborenen Kindes, der Terror der Schwiegereltern, die bigotte Gesellschaft, die sich über eine alleinerziehende Mutter erhebt, das alles zieht rasch vorüber und kann die Heldin dieses Dramas nicht aufhalten.
Ein neues Leben beginnt Herta in München im Olympiajahr 1972. „Bardame gesucht – Zimmer vorhanden“, das ist ein Lockruf, dem die junge Frau aus der Provinz nicht widerstehen kann. Als Bardame bessert sie ihr geringes Gehalt als Friseurin auf, doch noch mehr kann man als Domina verdienen, wenn man sein Handwerk versteht. Anfangs fremdelt sie in diesem Metier, ihr neuer Freund Rainer, von dem sie ein Kind erwartet, rät ihr dringend ab. Für ihre Entscheidung hat sie im Buch eine einfache Erklärung, wenn man versteht, was sie alles schon durchgemacht hat: „Ich schwor mir, nie wieder von einem Mann abhängig und auf sein Geld angewiesen zu sein.“ Das klingt erst mal wie ein großer Widerspruch, aber Lueger kann sich die Kunden eben meist aussuchen. Sie weiß, wie Kapitalismus funktioniert.
Der Rest des Buches ist wie eine Achterbahnfahrt auf dem Oktoberfest: Man sollte sich besser gut anschnallen, denn die einzelnen Episoden vergehen wie im Rausch. Wie hat sie das nur alles geschafft? Herta Lueger versucht, Sex-Unternehmerin, Ehefrau und Mutter gleichzeitig zu sein, sie verdient ordentlich, aber das Geld ist nie genug – dabei kann man leicht abstürzen.Und während viele ihrer Bekannten, die als Prostituierte arbeiten, langsam zugrunde gehen oder Opfer von Verbrechen werden, zeigt sich Hertas erstaunliche Resilienz, ihr Kampfgeist. Als Domina versucht sie, die maximale Kontrolle zu behalten. Manche Männer genießen die kalkulierte Demütigung, sie wollen in eine Fantasiewelt entführt werden. Aber wehe, man gibt die Peitsche aus der Hand.
Beim Lesen geht einem der Song „Skandal im Sperrbezirk“ nicht mehr aus dem Kopf. Die Spider Murphy Gang schaffte 1981 den Sprung in die Hitparade, genau in jener Zeit, als Herta Luegers Geschäfte am besten liefen. „Skandal im Sperrbezirk“ kann man nach Einmal-Hören locker mitgrölen, doch nach dieser Lektüre ist auch klar: Das Lied ist viel zu harmlos, eigentlich ein Witz.
Nach ihrer Zeit als „begehrte Fachkraft“, wie Herta Lueger das nennt, hat sie ein deutlich ruhigeres Leben geführt. Mit einem gut laufenden Friseursalon kann man bequem alt werden. Über ihre Vergangenheit als Prostituierte wollte sie lange nicht sprechen. Erst als ihre Mutter im Burgenland starb, fühlte sie sich frei genug, alles zu erzählen. Ohne Scham und ohne Rücksicht darauf, was andere Leute von ihr denken. Allein deshalb ist das Buch lesenswert. Ihr Fazit ist eindeutig: „Das Milieu hat seine menschlichen Seiten, aber am Ende ist es doch mörderisch. Im Grunde ist es ein Wunder, dass ich noch lebe. Manchmal denke ich, ich bin wie auf Wolken über allen Gefahren geschwebt.“