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Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert - Rezensiert in der SZ von Joachim Käppner
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Spätestens seit dem Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan und dem russischen Überfall auf die Ukraine wissen wir, dass die bislang geltende Ordnung an ihr Ende gekommen ist. Die Welt ist in Aufruhr. Doch wie wird sie sich neu sortieren, und wie wird sie im 21. Jahrhundert aussehen? Vor welchen Umwälzungen, Brüchen und Umbrüchen stehen wir?Eine auf Werten und Normen fußende Weltordnung durchzusetzen, übersteigt die Fähigkeiten des Westens. Die USA, einst «Weltpolizist», befinden sich trotz internationalen Engagements auf dem Rückzug; die UN, der man diese Rolle ebenfalls zugedacht hatte, blockiert sich selbst. Und die Europäer sind schlicht nicht imstande, eine Weltordnung zu hüten. Eine prekäre, risikoreiche Lage, in der auch ein Blick in die Geschichte und auf frühere weltpolitische Konstellationen hilfreich ist, um Hinweise auf die künftige, sich jetzt herausbildende Ordnung zu erhalten.Herfried Münkler zeigt in dieser gedankenfunkelnden geopolitischen Analyse, wo in Zukunft die Konfliktlinien verlaufen. Viel spricht dafür, dass ein neues System regionaler Einflusszonen entsteht, dominiert von fünf Großmächten. Wo liegen die Gefahren dieser neuen Ordnung, wo ihre Chancen? Wäre es ein austariertes Mächtegleichgewicht - oder Chaos? Und wie sollten sich Europa und Deutschland in den zu erwartenden globalen Auseinandersetzungen verhalten? Ein aufregender, Maßstäbe setzender Ausblick auf die Machtkonstellationen im 21. Jahrhundert.
Vollständige Rezension anzeigen Phantome aus Schmerz Die Ordnung des Kalten Krieges ist Geschichte. Der Politologe Herfried Münkler sortiert die globalen Machtzentren auf überzeugende Weise neu. Behaglicher wird einem nicht dabei. Das Symptom war nicht neu, aber wenige Ärzte hatten je damit zu tun gehabt. Das änderte sich 1914 mit Beginn des Ersten Weltkrieges grundlegend: Noch lange nach dem Grauen der Grabenkämpfe, der Sturmangriffe auf befestigte, von Artillerie und Maschinengewehren verteidigte Bunkerlinien klagten Überlebende über "Phantomschmerzen". Das waren Männer, die bei dem Gemetzel von Ypern, Verdun oder an der Somme Gliedmaßen verloren hatten oder denen sie im Lazarett amputiert wurden. Lange später noch spürten die Patienten Schmerzen in einer Hand oder einem Unterschenkel, die längst nicht mehr da waren, Phantome eines traumatischen Verlustes. Mit diesem Krieg verschoben sich die Machtverhältnisse in Europa und der Welt dramatisch. Erst 1989 schienen die Umwälzungen, die er ausgelöst hatte, an ein vorläufiges Ende gekommen zu sein, als sich das Imperium der Supermacht Sowjetunion auflöste. Es folgte eine Zeit der Illusion, die Welt werde sich nach westlichem Muster demokratisieren, das nach dem einschlägigen Buch des amerikanischen Demokratietheoretikers Francis Fukuyama so oft zitierte "Ende der Geschichte" sei gekommen, das Ende der großen Ideologien und Kriege nämlich. Fünf Machtzentren könnten es werden, doch alle haben sie gravierende Schwächen Das hat sich leider als falsch erwiesen. Den letzten Sargnagel für diese Fantasie schlug Wladimir Putin ein, als er am 24. Februar 2022 seine Armeen die Ukraine überfallen ließ. Und glaubt man dem Politiktheoretiker Herfried Münkler, dann waren Phantomschmerzen der Grund, diesmal solche von "postimperialer" Natur. Russland griff zu den Waffen, um diese Schmerzen zu betäuben und einen Teil des imperialen Reiches zurückzugewinnen, so irrational und selbstschädigend das nach westlichen Maßstäben war. Den Perspektiven dieser seltsamen, beunruhigenden "Welt in Aufruhr" widmet der einflussreiche Politikwissenschaftler Münkler sein neues Buch. Die brutale, aber klare Ordnung des Kalten Krieges, die von zwei Machtblöcken und Herrschaftsformen dominiert, also bipolar war, sie ist Geschichte. Und eine neue zeichnet sich erst schemenhaft ab. Münkler geht davon aus, dass sich aus Krieg und Krisen, Wandel und dem Wettstreit der Werte eine multipolare Welt herausbilden wird, genauer: eine "Pentarchie", also fünf Machtzentren. Diese werden demnach die USA und die Europäische Union sein, Russland, Indien und China. Doch sie alle haben Schwächen und Probleme, weshalb Münkler aus gutem Grund einen "Vorbehalt des Ungefähren" macht: Russland ist moralisch, politisch und militärisch geschwächt; die Demokratie der USA gespalten und im Kern bedroht; die EU von Zerfallskräften herausgefordert und Indien von massiven inneren Problemen. Und China? Derzeit wächst die Macht der Volksrepublik besorgniserregend, in den USA gilt sie längst als größte globale Herausforderung. Aber auch Pekings System hat, so Münkler, eine Achillesferse: "Die USA verfügen im Portfolio der Machtsorten über große ideologische Macht, vom American Dream bis zu dessen Ausfabulierung in Hollywood-Filmen oder im globalen Klang amerikanischer Musik. China hat nichts Vergleichbares zu bieten." Eine einzelne Nation, deren tyrannische Regierung überdies ihre eigenen Bürger in digitalen Orwell-Szenarien überwacht, kann bei aller Stärke keine geistige Strahlkraft entfalten wie einst der Sozialismus, der ein weltanschaulicher Gegenentwurf zum Westen gewesen war, eine säkulare Heilslehre, die Verheißung einer gerechteren Ordnung. All die Kräfte, an deren Verschwinden die Realos nie geglaubt haben, sind wieder erwacht Schon weil Münkler bereits vor zwei Jahrzehnten in "Die neuen Kriege" (2002) und "Imperien. Die Logik der Weltherrschaft" (2005) auch die Frage stellte, wie denn die freie Welt auf die künftigen Bedrohungen reagieren müsse, galt er bei linken Nostalgikern als eine Art Gottseibeiuns. Als verdächtigen Vordenker "einer Neubestimmung imperialer Politik" schmähte ihn einst im Stile eines spätmarxistischen Schauermärchens ein Kritiker, obwohl der damals noch an der Humboldt-Universität lehrende, inzwischen emeritierte Politologe die Fehler und Untaten auch des Westens stets deutlich anspricht. Vor allem hatte Münkler kühl analysiert, dass das Ringen der großen und kleine Mächte keineswegs vorbei sei, wie man gerade in Deutschland so lange gern glauben wollte. Und so sehr man das bedauern mag: Die jüngere Geschichte hat ihm recht gegeben. All die Kräfte, an deren Verschwinden die Realos der Politikanalyse wie Münkler nie geglaubt haben, sind also wieder erwacht. Populismus, Nationalismus, ideologischer Furor und sogar nackter, kriegführender Imperialismus, wie ihn Putins Russland gegen die Ukraine entfesselte oder Xis China über Taiwan bringen könnte, sollte die Vernunft in Peking ebenso schwinden, wie dies in Moskau geschah. Es kann nicht überraschen, dass die westlichen, zumal die deutschen Versuche, den Kremlherrn über wirtschaftliche Verflechtungen mit Russland - und großzügiges Hinwegsehen über die Aggressionen gegen Georgien oder in Syrien, ja selbst die Annexion der Krim 2014 - einzubinden und zu zähmen, nur geringe Gnade in den Augen des Gelehrten finden. Es spricht aber für ihn, dass er das Scheitern dieser Politik nicht zum Anlass für eine der nun so beliebten "Hab ich's euch Traumtänzern nicht gleich gesagt"-Polemiken nimmt. Er bevorzugt die ruhige, auch um Verständnis für die Motive und Möglichkeiten der Handelnden bemühte Analyse, wie es gute Wissenschaft tun soll. Die bundesdeutsche, dann auch größtenteils von der EU betriebene Methode, in Osteuropa nach dem Ende der sowjetischen Tyrannei Stabilität zu erzeugen, nennt Münkler "Wohlstandstransfer". Und er war erfolgreich. Wirtschaftliche Integration, Aufnahme vieler Staaten in die Europäische Union, Frieden schaffen mit allein ökonomischen Waffen: So wurden von Riga bis Bukarest die früheren Satelliten des Kreml Teil der europäischen Wohlstands- und Friedenszone. Besonders die Deutschen (West) holten auf diese Weise einen Teil der eigenen Geschichte nach: ihre gelungene Integration in die Institutionen der freien Welt nach 1949. Münkler nennt solche Politik das "Comte-Spencer-Modell", nach zwei optimistischen Denkern des 19. Jahrhunderts, Auguste Comte und Herbert Spencer. Auch diese glaubten - damals eine spektakuläre Annahme - an einen Fortschritt der menschlichen Vernunft. Anstelle verheerender und zerstörerischer Kriege um Territorien und Rohstoffe, schreibt Münkler, "tritt der Imperativ der Gütervermehrung, des wohlbedachten Umgangs mit prinzipiell knappen Ressourcen und damit einer kontinuierlichen Steigerung des Wohlstandsniveaus". Zudem gibt es einen "Begleiteffekt" solcher Wirtschaftspolitik, so Münkler: dass nämlich "durch das hohe Maß an ökonomischer Verflechtung die einer solchen Friedensordnung zugehörigen Staaten tendenziell nicht mehr fähig sind, Krieg zu führen". Kein schnell hingeschriebenes, sondern ein tiefschürfendes Buch Doch gegenüber dem neoimperialen Anspruch Russlands schlug dieser Versuch fehl. Die einseitige Abhängigkeit von russischen Gas und Öl, die törichte De-facto-Preisgabe der eigenen Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung und eine gravierende Fehleinschätzung davon, wie Russlands Führungsschicht denkt, bilden die Marksteine einer gescheiterten Politik: "Eine weitere Schwachstelle der Pazifizierung durch Wohlstandstransfer besteht darin, dass von ihr die Macht des Ressentiments zumeist unterschätzt wird." Zu diesen Irrtümern gehört, wie Münkler überzeugend argumentiert, die Annahme, mit Putins Russland so verhandeln zu können wie früher mit Breschnew oder Andropow: "Im Unterschied zu Russland war die Sowjetunion kein revisionistischer Akteur, sondern ein saturierter Besitzstandswahrer." Das ist kein schnell hingeschriebenes, sondern ein tiefschürfendes und wissenschaftlich überzeugendes Buch. Und obwohl der Autor darin hier und dort der Versuchung des Fachjargons erliegt und in solchen Passagen unter seinen erheblichen stilistischen Möglichkeiten bleibt, ist es insgesamt gut und verständlich zu lesen. Wie stets greift Münkler tief und kenntnisreich in die Geschichte zurück, um uns die Gegenwart besser zu erklären. Und seine gelegentlichen Exkurse ermüden keineswegs, sondern eröffnen spannende Erkenntnisse. So arbeitet er etwa heraus, dass die autoritären Regimes "in Russland, aber auch in China Carl Schmitt als Vordenker und Gewährsmann für sich entdeckt haben". Carl Schmitt, deutscher Staatsrechtler oder besser: Prediger staatlichen Unrechts ("Der Führer schützt das Recht, ... wenn er im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft"), der Macht über Moral stellte und von 1933 an NSDAP-Mitglied war, passt wohl perfekt in eine freiheitsfeindliche Gedankenwelt. Dennoch dürfte die neue Ordnung der fünf, so nimmt Münkler an - auch wenn manche Mächte, vor allem die USA und Europa, einander näherstehen als den anderen - nicht mehr dem Gut-Böse-Schema des Kalten Krieges entsprechen. Hier freilich mag man widersprechen: Vieles spricht leider dafür, dass die Idee der Freiheit, der Universalität der Menschenrechte, des Westens als "normativem Projekt" (so der Historiker Heinrich August Winkler) künftig von Gefahren bedroht sein wird, vor denen sie sich viel zu lange viel zu sicher gewähnt hatte. Der Sieg der Freiheit, so wie 1945 oder 1989, ist dabei alles andere als vorbestimmt. Daher könnte die Geltung, ja Rettung dieser Werte die zentrale moralische Frage werden und jede Macht, ob groß oder klein, in die Lage geraten, sich am Ende für eine Seite entscheiden zu müssen. So oder so, eines wird für die Welt im Aufruhr gewiss gelten, wie Münkler schreibt: "Die Imperative der Machtordnung sind unerbittlich."
Die Ordnung des Kalten Krieges ist Geschichte. Der Politologe Herfried Münkler sortiert die globalen Machtzentren auf überzeugende Weise neu. Behaglicher wird einem nicht dabei.
Das Symptom war nicht neu, aber wenige Ärzte hatten je damit zu tun gehabt. Das änderte sich 1914 mit Beginn des Ersten Weltkrieges grundlegend: Noch lange nach dem Grauen der Grabenkämpfe, der Sturmangriffe auf befestigte, von Artillerie und Maschinengewehren verteidigte Bunkerlinien klagten Überlebende über "Phantomschmerzen". Das waren Männer, die bei dem Gemetzel von Ypern, Verdun oder an der Somme Gliedmaßen verloren hatten oder denen sie im Lazarett amputiert wurden. Lange später noch spürten die Patienten Schmerzen in einer Hand oder einem Unterschenkel, die längst nicht mehr da waren, Phantome eines traumatischen Verlustes.
Mit diesem Krieg verschoben sich die Machtverhältnisse in Europa und der Welt dramatisch. Erst 1989 schienen die Umwälzungen, die er ausgelöst hatte, an ein vorläufiges Ende gekommen zu sein, als sich das Imperium der Supermacht Sowjetunion auflöste. Es folgte eine Zeit der Illusion, die Welt werde sich nach westlichem Muster demokratisieren, das nach dem einschlägigen Buch des amerikanischen Demokratietheoretikers Francis Fukuyama so oft zitierte "Ende der Geschichte" sei gekommen, das Ende der großen Ideologien und Kriege nämlich.
Fünf Machtzentren könnten es werden, doch alle haben sie gravierende Schwächen
Das hat sich leider als falsch erwiesen. Den letzten Sargnagel für diese Fantasie schlug Wladimir Putin ein, als er am 24. Februar 2022 seine Armeen die Ukraine überfallen ließ. Und glaubt man dem Politiktheoretiker Herfried Münkler, dann waren Phantomschmerzen der Grund, diesmal solche von "postimperialer" Natur. Russland griff zu den Waffen, um diese Schmerzen zu betäuben und einen Teil des imperialen Reiches zurückzugewinnen, so irrational und selbstschädigend das nach westlichen Maßstäben war.
Den Perspektiven dieser seltsamen, beunruhigenden "Welt in Aufruhr" widmet der einflussreiche Politikwissenschaftler Münkler sein neues Buch. Die brutale, aber klare Ordnung des Kalten Krieges, die von zwei Machtblöcken und Herrschaftsformen dominiert, also bipolar war, sie ist Geschichte. Und eine neue zeichnet sich erst schemenhaft ab. Münkler geht davon aus, dass sich aus Krieg und Krisen, Wandel und dem Wettstreit der Werte eine multipolare Welt herausbilden wird, genauer: eine "Pentarchie", also fünf Machtzentren.
Diese werden demnach die USA und die Europäische Union sein, Russland, Indien und China. Doch sie alle haben Schwächen und Probleme, weshalb Münkler aus gutem Grund einen "Vorbehalt des Ungefähren" macht: Russland ist moralisch, politisch und militärisch geschwächt; die Demokratie der USA gespalten und im Kern bedroht; die EU von Zerfallskräften herausgefordert und Indien von massiven inneren Problemen.
Und China? Derzeit wächst die Macht der Volksrepublik besorgniserregend, in den USA gilt sie längst als größte globale Herausforderung. Aber auch Pekings System hat, so Münkler, eine Achillesferse: "Die USA verfügen im Portfolio der Machtsorten über große ideologische Macht, vom American Dream bis zu dessen Ausfabulierung in Hollywood-Filmen oder im globalen Klang amerikanischer Musik. China hat nichts Vergleichbares zu bieten." Eine einzelne Nation, deren tyrannische Regierung überdies ihre eigenen Bürger in digitalen Orwell-Szenarien überwacht, kann bei aller Stärke keine geistige Strahlkraft entfalten wie einst der Sozialismus, der ein weltanschaulicher Gegenentwurf zum Westen gewesen war, eine säkulare Heilslehre, die Verheißung einer gerechteren Ordnung.
All die Kräfte, an deren Verschwinden die Realos nie geglaubt haben, sind wieder erwacht
Schon weil Münkler bereits vor zwei Jahrzehnten in "Die neuen Kriege" (2002) und "Imperien. Die Logik der Weltherrschaft" (2005) auch die Frage stellte, wie denn die freie Welt auf die künftigen Bedrohungen reagieren müsse, galt er bei linken Nostalgikern als eine Art Gottseibeiuns. Als verdächtigen Vordenker "einer Neubestimmung imperialer Politik" schmähte ihn einst im Stile eines spätmarxistischen Schauermärchens ein Kritiker, obwohl der damals noch an der Humboldt-Universität lehrende, inzwischen emeritierte Politologe die Fehler und Untaten auch des Westens stets deutlich anspricht. Vor allem hatte Münkler kühl analysiert, dass das Ringen der großen und kleine Mächte keineswegs vorbei sei, wie man gerade in Deutschland so lange gern glauben wollte. Und so sehr man das bedauern mag: Die jüngere Geschichte hat ihm recht gegeben.
All die Kräfte, an deren Verschwinden die Realos der Politikanalyse wie Münkler nie geglaubt haben, sind also wieder erwacht. Populismus, Nationalismus, ideologischer Furor und sogar nackter, kriegführender Imperialismus, wie ihn Putins Russland gegen die Ukraine entfesselte oder Xis China über Taiwan bringen könnte, sollte die Vernunft in Peking ebenso schwinden, wie dies in Moskau geschah.
Es kann nicht überraschen, dass die westlichen, zumal die deutschen Versuche, den Kremlherrn über wirtschaftliche Verflechtungen mit Russland - und großzügiges Hinwegsehen über die Aggressionen gegen Georgien oder in Syrien, ja selbst die Annexion der Krim 2014 - einzubinden und zu zähmen, nur geringe Gnade in den Augen des Gelehrten finden. Es spricht aber für ihn, dass er das Scheitern dieser Politik nicht zum Anlass für eine der nun so beliebten "Hab ich's euch Traumtänzern nicht gleich gesagt"-Polemiken nimmt. Er bevorzugt die ruhige, auch um Verständnis für die Motive und Möglichkeiten der Handelnden bemühte Analyse, wie es gute Wissenschaft tun soll.
Die bundesdeutsche, dann auch größtenteils von der EU betriebene Methode, in Osteuropa nach dem Ende der sowjetischen Tyrannei Stabilität zu erzeugen, nennt Münkler "Wohlstandstransfer". Und er war erfolgreich. Wirtschaftliche Integration, Aufnahme vieler Staaten in die Europäische Union, Frieden schaffen mit allein ökonomischen Waffen: So wurden von Riga bis Bukarest die früheren Satelliten des Kreml Teil der europäischen Wohlstands- und Friedenszone. Besonders die Deutschen (West) holten auf diese Weise einen Teil der eigenen Geschichte nach: ihre gelungene Integration in die Institutionen der freien Welt nach 1949.
Münkler nennt solche Politik das "Comte-Spencer-Modell", nach zwei optimistischen Denkern des 19. Jahrhunderts, Auguste Comte und Herbert Spencer. Auch diese glaubten - damals eine spektakuläre Annahme - an einen Fortschritt der menschlichen Vernunft. Anstelle verheerender und zerstörerischer Kriege um Territorien und Rohstoffe, schreibt Münkler, "tritt der Imperativ der Gütervermehrung, des wohlbedachten Umgangs mit prinzipiell knappen Ressourcen und damit einer kontinuierlichen Steigerung des Wohlstandsniveaus". Zudem gibt es einen "Begleiteffekt" solcher Wirtschaftspolitik, so Münkler: dass nämlich "durch das hohe Maß an ökonomischer Verflechtung die einer solchen Friedensordnung zugehörigen Staaten tendenziell nicht mehr fähig sind, Krieg zu führen".
Kein schnell hingeschriebenes, sondern ein tiefschürfendes Buch
Doch gegenüber dem neoimperialen Anspruch Russlands schlug dieser Versuch fehl. Die einseitige Abhängigkeit von russischen Gas und Öl, die törichte De-facto-Preisgabe der eigenen Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung und eine gravierende Fehleinschätzung davon, wie Russlands Führungsschicht denkt, bilden die Marksteine einer gescheiterten Politik: "Eine weitere Schwachstelle der Pazifizierung durch Wohlstandstransfer besteht darin, dass von ihr die Macht des Ressentiments zumeist unterschätzt wird." Zu diesen Irrtümern gehört, wie Münkler überzeugend argumentiert, die Annahme, mit Putins Russland so verhandeln zu können wie früher mit Breschnew oder Andropow: "Im Unterschied zu Russland war die Sowjetunion kein revisionistischer Akteur, sondern ein saturierter Besitzstandswahrer."
Das ist kein schnell hingeschriebenes, sondern ein tiefschürfendes und wissenschaftlich überzeugendes Buch. Und obwohl der Autor darin hier und dort der Versuchung des Fachjargons erliegt und in solchen Passagen unter seinen erheblichen stilistischen Möglichkeiten bleibt, ist es insgesamt gut und verständlich zu lesen. Wie stets greift Münkler tief und kenntnisreich in die Geschichte zurück, um uns die Gegenwart besser zu erklären. Und seine gelegentlichen Exkurse ermüden keineswegs, sondern eröffnen spannende Erkenntnisse.
So arbeitet er etwa heraus, dass die autoritären Regimes "in Russland, aber auch in China Carl Schmitt als Vordenker und Gewährsmann für sich entdeckt haben". Carl Schmitt, deutscher Staatsrechtler oder besser: Prediger staatlichen Unrechts ("Der Führer schützt das Recht, ... wenn er im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft"), der Macht über Moral stellte und von 1933 an NSDAP-Mitglied war, passt wohl perfekt in eine freiheitsfeindliche Gedankenwelt.
Dennoch dürfte die neue Ordnung der fünf, so nimmt Münkler an - auch wenn manche Mächte, vor allem die USA und Europa, einander näherstehen als den anderen - nicht mehr dem Gut-Böse-Schema des Kalten Krieges entsprechen. Hier freilich mag man widersprechen: Vieles spricht leider dafür, dass die Idee der Freiheit, der Universalität der Menschenrechte, des Westens als "normativem Projekt" (so der Historiker Heinrich August Winkler) künftig von Gefahren bedroht sein wird, vor denen sie sich viel zu lange viel zu sicher gewähnt hatte. Der Sieg der Freiheit, so wie 1945 oder 1989, ist dabei alles andere als vorbestimmt. Daher könnte die Geltung, ja Rettung dieser Werte die zentrale moralische Frage werden und jede Macht, ob groß oder klein, in die Lage geraten, sich am Ende für eine Seite entscheiden zu müssen.
So oder so, eines wird für die Welt im Aufruhr gewiss gelten, wie Münkler schreibt: "Die Imperative der Machtordnung sind unerbittlich."
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